Herausgeber | Martin Brinkmann |
Titel | 111 Gründe, Bayern München zu hassen |
Verlag | Schwarzkopf & Schwarzkopf |
Erscheinungsjahr | 2014 |
Bewertung |
Für insgesamt 15 derzeitige Bundesligisten und 6 Zweitligisten gibt es im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf ein Buch namens 111 Gründe, [Name des Vereins] zu lieben. Nur für einen Club gibt es das Gegenstück, ein Hassbuch. Dieser Club ist der FC Bayern München, und 111 Gründe, Bayern München zu hassen, ist eine Lektüre, die bei allen rechtschaffenen Fußballfans für viel gute Laune sorgen dürfte.
Herausgeber Martin Brinkmann, im Hauptberuf als Literaturkritiker tätig, sieht sich gar nicht als „echten Fußballfan“. Aber als gebürtiger Bremer, der nun in München lebt, hatte er wohl kaum eine Chance, dem Grundkonflikt des deutschen Fußballs (beherzter Herausforderer, wie es Werder Bremen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder war, gegen übermächtigen Branchenkrösus, wie es Bayern München seit gut 30 Jahren ohne Unterbrechung ist) aus dem Weg zu gehen. Sein Band wird eine sehr gute Annäherung an die Frage, was den deutschen Rekordmeister so unsympathisch macht.
66 Autoren steuern die insgesamt 111 Gründe bei, darunter bekannte Journalisten wie Jörg Thomann oder Frank Schäfer, aber auch der Bachmann-Preisträger Peter Wawerzinek. Es gibt reichlich wunderbare Anekdoten und insgesamt einen leidenschaftlichen, amüsanten und kenntnisreichen Blick auf den Fußball, weit über Stammtisch-Niveau. Viele der Verfasser waren schon an der Reihe Wir sind der zwölfte Mann – Fußball ist unsere Liebe beteiligt, in der sie über ihr jeweiliges Lieblingsteam schwärmen durften.
Diese Perspektive prägt auch 111 Gründe, Bayern München zu hassen. Fast immer berichten die Autoren von ihren leidvollen Erfahrungen als Anhänger des jeweiligen Bayern-Gegners. Dadurch fehlt dem Buch in gewisser Weise die Gesamtschau, das wirklich Analytische. Die Provinzialität des „Mia san mia“, die Emotionslosigkeit des FC Bayern, eine objektive Analyse seine Geschäftsgebarens innerhalb der Bundesliga – all das fehlt.
Erstaunlich ist nach der Lektüre der gut 300 Seiten auch, wie wenige der echten Skandale hier berücksichtigt sind, die der Verein mit dem Ehrentitel „FC Hollywood“ produziert hat. Klinsmann und die Tonne, die Entlarvung von Kokain-Daum, der Anti-Meister der Herzen 2001: All das ist vertreten und hassenswert genug. Aber Franck Ribéry im Puff mit einer Minderjährigen fehlt, die Steuer-Affäre von Uli Hoeneß wird nur am Rande erwähnt und Giovanni Trapattonis Wutrede kommt (übrigens ebenso wie eine höchst amüsante Episode aus dem Herrenklo des legendären Ilses Erika) erst ganz zum Schluss. Auch das Techtelmechtel von Lothar Matthäus mit der Tochter von Vereinsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt spielt in diesem Buch keine Rolle, ebenso das Missgeschick von Karl-Heinz Rummenigge, eine größere Rolex-Lieferung nicht beim Zoll anzugeben, oder das nicht ganz folgenlose Aufeinandertreffen des brasilianischen Abwehrspielers Breno Vinícius Rodrigues Borges (alias Breno) mit einer Packung Streichhölzer.
Genug Abstoßendes enthält dieses Buch natürlich trotzdem, und gerade der Blick auf die Aspekte, die sich nicht auf der Titelseite der Bild finden, lässt letztlich erkennen, warum die Abneigung gegen den FC Bayern so tief sitzt. Hassenswert an diesem Verein ist in erster Linie die Monotonie seiner Siege, ihre Anzahl und ihr Zustandekommen. Und Uli Hoeneß, immer wieder Uli Hoeneß. Der Ex-Manager kommt in gefühlt jedem Text dieses Buches vor, er ist stets ein rotes Tuch und hat offensichtlich jeden Euro auf dem berühmten Festgeldkonto des Rekordmeisters mit Unmengen von Sympathie-Minuspunkten und schlechtem Karma bezahlt.
Hoeneß steht für die sprichwörtliche Arroganz des Clubs, der eine seiner unerträglichen Vereinshymnen Forever Number One genannt hat. Er personifiziert die vollkommen unsouveräne Art, mit der Dominanz, mit jedem Popel-Titel auch noch zu prahlen. Und er verkörpert, wann immer sich seine Gesichtsfarbe den Vereinsfarben annähert, die noch unsympathischere Eigenschaft, bei jeder der seltenen Niederlagen zuerst eine Weltverschwörung zu wittern und dann eine Prophezeiung künftiger Unbesiegbarkeit vom Stapel zu lassen.
Am Beginn von 111 Gründe, Bayern München zu hassen, steht eine kalkulierte Provokation, die genau dieses Auftreten zum Ausdruck bringt. Verfasst hat die nette Stichelei Jörg Heinrich, Autor von 111 Gründe, Bayern München zu lieben, und er schließt mit der Frage „Mia san mia. Und wer seid ihr?“
Dass die folgenden Erwiderungen von Empörung, gekränktem Stolz und vielen bitteren Niederlagen geprägt sind, daran bleibt kein Zweifel. Die Vielfalt der Vorwürfe ist enorm, wie eine willkürliche Auswahl der Kapitelüberschriften zeigt: Weil die Bayern noch nicht mal wissen, wie man sich schämt. Weil der FC Bayern das Bildungsniveau versaut. Weil der FC Bayern kein Versmaß kann.
Noch größer sind die Emotionalität und die (für alle Nicht-Bayern-Fans sehr wohltuende) Boshaftigkeit der Autoren. „An 364 Tagen im Jahr ist der Marienplatz immer noch einer der schönsten Orte Münchens – nur ein einem Tag nicht. (…) Dann präsentieren sich die unvermeidlichen Meisterfeierer mehr oder weniger motiviert auf dem Rathausbalkon, und unten ist alles voller Scherben, Kotze und – zu allem Übel – Bayern-Fans“, schreibt etwa Markus Schäflein. Angesichts des Phantomtors von Thomas Helmer kommt Till Burgwächter zum Schluss: „Einen Fehler zu machen, ist menschlich. Einen Fehler zu machen und sich dafür nicht zu entschuldigen, ist schäbig. Einen Fehler zu machen und sich dafür auch noch feiern zu lassen, das ist der FC Bayern.“ Und Dirk Udelhoven hat erkannt: „Die Bayern sind der Verein für Leute, die immer auf Nummer sicher gehen, kein Risiko eingehen und niemals anecken wollen – Bayern München ist quasi die Missionarsstellung unter den Bundesliga-Vereinen.“
In diesem Zitat steckt der Kern des Buchs. Denn gebetsmühlenartig wird von den Autoren der Vorwurf geäußert, der FC Bayern München habe keine echten Fans. Der Verein hat sich in der gerade abgelaufenen Bundesliga-Saison bereits nach 27 von 34 Spieltagen die Meisterschale gesichert, im Jahr davor das Triple geholt. Bei einer derart zuverlässigen Erfolgsbilanz könne man den Kern des Fußballs gar nicht erfassen, das Auf und Ab, das Hoffen und Bangen, den unverhofften Höhenflug und den Abstiegskampf in einer Saison, in der man auf die Champions League spekuliert hatte.
„Bayern ist wie ein Würfel mit fünf Sechsen und einer Fünf. Bayern wird immer gewinnen, und wenn einmal nicht, dann bald umso mehr. Meine Güte, Bayern-Fans, sterbt ihr nicht an Langeweile?“, fragt sich Martin Berke passend dazu in seinem Beitrag. Der Vorwurf, die Bayern-Fans (gelegentlich werden sie hier nur in Anführungszeichen so bezeichnet), hätten keine Ahnung von der wahren Tiefe des Fußballs, sie hätten niemals das Leiden erfahren, das unverzichtbare Bedingung für das Auskosten eines Triumphs sei, kommt so oft vor, dass die Fans aller anderen Vereine in diesem Buch fast wie der Bundesverband eingetragener Masochisten e.V. erscheinen.
Dass dieser Aspekt so sehr betont wird, erlaubt noch eine andere wichtige Erkenntnis: Es belegt, dass Neid beim Hass auf den FC Bayern (keine Sorge: die allermeisten Beiträge kommen trotz dieses starken Wortes halbwegs versöhnlich daher) nicht die dominierende Rolle spielt. Es geht auch nicht um die Romantik eines ewigen David gegen Goliath, die eben nur funktioniert, wenn David zumindest gelegentlich den Sieg davon trägt. Es geht all diesen kritischen Autoren und allen engagierten Fans schlicht darum, den Effekt zu vermeiden, der das Gegenteil von Fußball ist, und den der FC Bayern verkörpert: Berechenbarkeit.
Bestes Zitat: „Bayern-Hass liegt in der guten sportlichen Tradition begründet, den Underdog zu lieben. Der Underdog ist aber nur dann sympathisch, wenn er selbstbewusst seine Kleinheit feiert. Will er sein wie der Mächtige, wird er zum Gernegroß, der nach dem verlorenen Spiel unterwürfig um das verschwitzte Trikot des Siegers bettelt. Der ultimative Triumph des FC Bayern: Neuerdings wollen alle so sein wie er.“ (aus dem Kapitel Weil inzwischen alle so sind wie der FC Bayern von Journalist Niclas Müller, der als gebürtiger Berliner nun ebenfalls das triste Dasein eines Lebens in München erdulden muss und 2002 gemeinsam mit Torsten Geiling das Standardwerk Zieht den Bayern die Lederhosen aus verfasst hat)