Autor | Michael Mary |
Titel | Ab auf die Couch. Wie Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe leisten |
Verlag | Blessing |
Erscheinungsjahr | 2013 |
Bewertung |
Im Mai ist es wieder soweit. Dann erscheint DSM-5. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich die neuste Ausgabe eines Leitfadens, der Diagnosen für psychische Erkrankungen versammelt. Mit anderen Worten: In dieser Liste wird definiert, was als krank gilt – und was, im Umkehrschluss, als geistige Gesundheit gelten kann.
Wenn das Werk, an dem seit 1994 gearbeitet wird, endlich vorliegt, werden viele mit dem Kopf schütteln. Binge-Eating, also das exzessive Nahrung-In-Sich-Hineinstopfen, wird darin beispielsweise als Krankheitsbild anerkannt, ebenso wie eine Launenfehlregulationsstörung. Auch für Internetsucht wurde das diskutiert, aber letztlich verworfen. Diese Entscheidung hat weit reichende Folgen: Denn die Aufnahme in DSM-5 bedeutet auch, dass die gesetzlichen Krankenkassen für die Behandlung der jeweiligen Krankheit aufkommen müssen.
Michael Mary wird zum Start von DSM-5 ganz vorne stehen im Chor der Zweifler, und er wird aus vollem Halse protestieren. Der Psychotherapeut aus Hamburg meint nicht nur, dass die Psychobranche seit Jahren fleißig neue Krankheiten erfindet und prächtig daran verdient, dass sie ganz normale Sorgen in krankhafte Phänomene umdeutet. Er hält auch nichts davon, die menschliche Psyche in Schubladen oder Listen zu unterteilen. Die Kernthese seines neuen Buchs Ab auf die Couch lautet: Psychotherapie ist etwas anderes als Medizin. Sie ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Behandeln ist nicht möglich, sondern nur begleiten. Psychotherapeuten sind keine Operateure der Seele mit Erfolgsgarantie, Schablonen, Richtlinien und Handbücher sind unbrauchbar.
„Die Psychotherapie befasst sich nicht mit Dingen, nicht mit Fakten, nicht mit Ursachen – sondern mit unüberschaubaren Zusammenhängen und hat dazu nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Ein Psychotherapeut kann seinem Klienten kommunikative Angebote machen; und dass der Einzelne diese annimmt und Sinn darin findet, darauf muss der Therapeut hoffen, aber darauf zählen kann er nicht“, betont er.
Sein Buch zeigt auf, wie weitgehend dieser Grundsatz missachtet wird. Sein erster Vorwurf: Der Patient (den Begriff lehnt er ab und spricht lieber von „Klienten“) spielt im heutigen System der Psychotherapie quasi keine Rolle mehr. Statt einer individuellen Therapie, die genau auf seine Stimmungen zugeschnitten ist, gibt es immer häufiger nur noch Standardmethoden. Die Therapeuten sind gezwungen, sich auf gerade einmal drei verschiedene Ansätze zu beschränken, weil nur diese drei von den Krankenkassen bezahlt werden. Diagnosen werden nach der Erfahrung des Autors deshalb zunehmend willkürlich und letztlich nur erstellt, um den Anforderungen der Bürokratie zu genügen. Ist der Betroffene nun psychotisch oder depressiv? Letztlich sei das egal, solange die Diagnose nur im DSM-5 enthalten ist.
Mary, der unter anderem den Bestseller 5 Lügen, die Liebe betreffend geschrieben hat, propagiert einen anderen Ansatz, und zeigt am Ende des Buches etliche Alternativen zur heute gängigen Praxis auf: Der Therapeut solle sich auf genau das Problem konzentrieren, mit dem der Klient zu ihm gekommen ist, völlig offen in der Wahl seiner Methoden sein und zudem berücksichtigen, dass die meisten Probleme ihre Lösung bereits in sich tragen.
„Psychotherapie leistet etwas, was weder Medizin noch Psychiatrie leisten können. Sie befasst sich mit den nicht verallgemeinerbaren Dingen: mit der Individualität eines Menschen, mit seinen Besonderheiten, mit jenen Merkmalen und Merkwürdigkeiten, die aus ihm erst ein Individuum machen“, legt er zu Beginn von Ab auf die Couch dar. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, doch dieser Grundgedanke ist offenbar so weit aus dem Fokus der Disziplin gerückt, dass er in seinem Buch immer wieder darauf hinweist.
Sein zweiter Vorwurf: Es werden reichlich Patienten/Klienten behandelt, bei denen das gar nicht nötig wäre. Die im Prinzip beruhigende Botschaft von Mary lautet: Wir sind ganz normal. Dass viele Menschen an sich selbst zweifeln und Probleme haben, ihr seelisches Gleichgewicht zu halten, Probleme zu bewältigen oder Sinn in ihrem Leben zu finden, hat längst nicht zu bedeuten, dass sie alle in Behandlung gehören. Sehr gekonnt zeigt Mary auf, dass die Komplexität der modernen Welt dazu führt, dass quasi jeder Mensch aus mehreren Ichs besteht, zwischen denen er je nach Anforderung der jeweiligen Alltagssituation wechselt. Mary sieht uns als „Identitäts-Chamäleons“ und betont: „Es gibt in der modernen Welt keinen Charakter und keinen Sinn- und Verhaltensmodus mehr, an dem sich durch alle Lebensbereiche hindurch festhalten lässt.“
Dass zwischen diesen verschiedenen Ichs mitunter Reibungen entstehen, ist in seinen Augen längst kein Grund dafür, einen Therapeuten aufsuchen zu müssen. „Die Persönlichkeit ist multipel – psychische Probleme gehören heute dazu“, lautet eine Zwischenüberschrift des Buchs. Was bloß eine Krise ist, wird aber in vielen Fällen zur Krankheit gemacht. Auch die Pharmabranche, die für jede Sorge die passende Pille im Angebot verspricht, trage dazu bei, dass die Psychotherapie mehr und mehr „dem Marktgesetz der Expansion“ folge. „Ein Volk, so kann man ohne Übertreibung sagen, wird psychopharmakologisch angefüttert, indem man schon Kinder an Psychopillen heranführt“, schreibt er.
Mitunter ist es ein wenig ermüdend, wie sehr Mary in diesem Buch auf seinen beiden Kernthesen herumreitet. Die Hälfte, sogar ein Drittel des Umfangs von gut 250 Seiten hätte auch genügt, um seine Botschaft rüberzubringen. Allerdings erkennt er auch so viele Dimensionen, die von der Schematisierung und Ökonomisierung der Psychotherapie betroffen sind, dass es verständlich erscheint, wie häufig er auf die Probleme hinweist – letztlich unterstreichen die Redundanzen seines Buchs die Bedeutung seiner Kritik. Glaubwürdigkeit gewinnen seine Argumente auch dadurch, dass er mit der eigenen Zunft hart ins Gericht geht und etlichen Psychotherapeuten Gier und Arroganz vorwirft. Zudem präsentiert er in Kästen immer wieder Zahlen, Erfahrungsberichte und Beispiele.
Wiederholt wendet er sich auch gegen den Vormarsch der Evidenzbasierung, die mittlerweile auch die Psychotherapie erreicht hat. Folgt man seinem Ansatz, dass es in der Psychotherapie kein Ursache-Wirkungs-Prinzip gibt, sondern bloß Zusammenhänge, dann sind Erfolgsmessungen und Effektivitätskontrollen in der Tat fragwürdige Ansätze. Mary plädiert für „Ergebnisneutralität“, und das bedeutet: „Ich weiß nicht, wie deine Psyche beschaffen ist, ich weiß nicht, was gut für dich ist, ich weiß nicht, wie die Lösung deines Problems aussehen wird, aber ich bin durchaus bereit, mich mit dir auf die Suche danach zu machen – und ich erkenne deine Lösung an, ganz gleich, was ich davon halte.“
Allerdings muss bei diesem Ansatz auch die Frage erlaubt sein: Wenn bei der Psychotherapie keine Erfolgskontrolle möglich ist, wie soll man dann die Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen, also durch die Solidargemeinschaft, rechtfertigen? Mehr noch: Woher kommt die Legitimation der Disziplin, wie unterscheidet sie sich von Scharlatanerie, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre eigene Wirksamkeit zu beweisen?
Mary hat Antworten auf beide Fragen, auch wenn sie nicht ganz befriedigend sind. Die Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen lehnt er ab, er sieht darin (und in der damit verbundenen staatlichen Aufsicht) sogar den Grund für viele Fehlentwicklungen innerhalb der Psychotherapie. Für die Frage nach der Wirksamkeit verweist er darauf, dass Psychotherapie eben nicht mit wissenschaftlichen Standards gemessen werden kann, sondern als „Kunst“ zu betrachten sei.
Umso spannender geraten seine Ausführungen zum Nutzen psychischer Störungen. Wenn die Gesellschaft plötzlich ein Phänomen wie „Burn Out“ diskutiert (das übrigens nicht als Diagnose im DSM-5 enthalten sein wird), dann werden damit Fehlentwicklungen thematisiert, für die Lösungen gefunden werden müssen. „In der individualisierten Welt können massiv auftretende psychische Symptome die Funktion sozialer Auflehnung übernehmen“, meint er sogar. So könne man Depression, Erschöpfung oder Ängste als Absage an Leistungsdruck, die Fixierung auf das materielle Leben oder das Verschwinden sozialer Kontakte interpretieren – einen „Aufstand der Psychen“.
Das ist der wichtigste Appell von Ab auf die Couch, weil er weit über den Bereich der Psychotherapie hinausreicht: Die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit müssen sozial gelöst werden – nicht zu Krankheiten von Einzelnen umgedeutet, die dann therapeutisch behandelt werden sollten.
Bestes Zitat: „Im Zuge der Vorarbeiten für dieses Buch habe ich mit etlichen Psychotherapeuten diskutiert, die ihren Beruf zum Teil seit dreißig Jahren ausüben. Keiner war in der Lage, mir klar und nachvollziehbar den Unterschied zwischen Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen und deren Unterformen und Überschneidungen zu erläutern. Um trotz der individuellen Vielfalt der Probleme den Klienten in eine Diagnose-Schublade zu stecken, müssen die Therapeuten für ihre Gutachten Bücher in die Hand nehmen, damit sie den theoretischen und bürokratischen Vorgaben gerecht werden und den Krankenkassen keinen Grund liefern, die Behandlung abzulehnen.“