Autor | Michael Ondaatje | |
Titel | Der englische Patient | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1992 | |
Bewertung |
„Sie trat in die Geschichte ein, im Bewusstsein, daraus mit einem Gefühl hervorzukommen, als wäre sie in das Leben anderer eingetaucht, in Handlungen, die zwanzig Jahre zurückreichten, ihr ganzer Körper von Sätzen und Augenblicken erfüllt, als erwachte sie aus einem Schlaf mit der Schwere vergessener Träume.“ Diesen Eindruck hat die Krankenschwester Hana, als sie das Notizbuch des Patienten öffnet, den sie behandelt. Sie kennt seine Identität nicht: Der bei einem Flugzeugabsturz in der afrikanischen Wüste fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Mann kann sich nur an Bruchstücke seiner Vergangenheit erinnern. Nur eins ist sicher: Sein Notizbuch hütet er wie einen Schatz.
Die beiden sind im Sommer 1944 die einzig verbliebenen Bewohner in einem ehemaligen Nonnenkloster in der Toskana, das zuvor als Feldlazarett gedient hatte. Der englische Patient war nach etlichen Zwischenstationen hier gelandet. Als all ihre Kolleginnen weiterzogen, beschloss die 20-jährige Hana, bei dem geheimnisvollen (und kaum noch transportfähigen) Mann zu bleiben. Sie stammt aus Toronto und trauert noch um ihren Vater, der aus Kanada ebenfalls nach Europa gegangen war und eines der vielen Opfer dieses Krieges wurde. Vielleicht ahnt sie, dass sie in ihrer Einsamkeit und der Hingabe an einen Bettlägerigen so etwas wie Trost finden kann.
Das ist die Ausgangssituation in Der englische Patient, dem Buch, das Michael Ondaatje den Booker Prize und seinen internationalen Durchbruch brachte. Sein Roman lebt nicht nur vom Geheimnis um die Identität des Patienten, der sich als Engländer ausgibt, womöglich aber auch ein deutscher Kollaborateur sein könnte. Sehr geschickt verwebt der Autor, der 1943 in Ceylon geboren wurde und dann zum Studium nach Kanada ging, in seinem Werk auch Gegenwart und Vergangenheit, wenn er nach und nach die Geschichte des Mannes und den Weg bis zu seinem tragischen Unfall enthüllt.
Abwechselnd lässt er Szenen aus dem Kloster in der Nähe von Florenz und Erinnerungen des Patienten aus seiner Zeit in der Wüste folgen, was für eine sehr besondere Spannung sorgt. Das Unsichtbare und Unbekannte spielt dabei eine entscheidende Rolle: Minen rund um das Kloster, die von der abziehenden Wehrmacht angebracht wurden, oder der genaue Verlauf der Fronten im Krieg, von dem Hana wenig mitbekommt, ebenso wie Geheimdienst-Affären und unentdeckte Schätze des Altertums in der Sahara.
Geografie ist dabei ein wichtiges Thema in Der englische Patient. Einmal erinnert sich die Titelfigur an eine Szene, in der die Realität nach zwei Wochen in der Wüste und ihr Abbild auf einer uralten Landkarte fast zu verschmelzen scheinen: „Es war, als befände er sich unter dem Millimeter-Schleier direkt über der mit Tinte gezogenen Landkarte, dieser reinen Zone zwischen Land und graphischer Darstellung zwischen Entfernungen und Legende, zwischen Natur und Geschichtenerzähler.“ Auch dieses Erzählen, die Kunst der Aufzeichnung und die Geschichte im Wortsinne von Tradition (also als Voranschreiten und Hinübergehen) sind wichtige Leitmotive des Romans, die Ondaatje immer wieder sehr elegant in seine Handlung einwebt.
Noch prickelnder wird die Atmosphäre, als zwei neue Figuren im Kloster auftauchen. Caravaggio ist ein hauptberuflicher Dieb, der sich dann im Krieg als Spion anheuern ließ, zudem ein alter Freund von Hanas Vater. Kip ist ein Inder in Diensten des britischen Militärs, der als Bombenentschärfer arbeitet und im ehemaligen Lazarett dabei ein reiches Betätigungsfeld findet. Für ihn gilt, ebenso wie für die gebürtige Kanadierin Hana und den Patienten, der sich nicht einmal seiner eigenen Nationalität erinnern kann: Sie haben im geografischen und übertragenen Sinne keine Heimat, sie haben – vielleicht deshalb – auch kein klar definiertes Ich. Mehr noch: Sie alle leben weitgehend ohne Vergangenheit und stattdessen mit dem Entschluss, aus den Bruchstücken ihrer Erinnerung eine neue Identität zusammenzusetzen.
Damit entsteht ein sehr mysteriöses Figurenensemble. Der Autor richtet seinen Blick nach und nach auf jede seiner Hauptpersonen, verrät kleine Stücke ihres Geheimnisses, aber niemals die gesamte Persönlichkeit. Neben der Entwurzelung wird dabei noch eine Parallele zwischen Hana, Kip und dem englischen Patienten deutlich: Jeder von ihnen verbietet sich etwas, gehorcht einer Pflicht, deren Ursprung wir nicht kennen.
Bestes Zitat: „Wir sterben und bergen in uns den Reichtum von Geliebten und Stämmen, den Geschmack von Speisen, die wir vergessen haben, Körper, in die wir eingetaucht und die wir hochgeschwommen sind, als wären es Flüsse von Weisheit, Charaktere, in die wir geklettert sind, als wären es Bäume, Ängste, in denen wir uns versteckt hielten, als wären es Höhlen. Ich wünsche mir all dies auf meinem Körper verzeichnet, wenn ich tot bin.“