Autor | Paul Auster |
Titel | Sunset Park |
Verlag | Rowohlt |
Erscheinungsjahr | 2010 |
Bewertung | *** |
Einen Moment lang kann man glauben, Paul Auster habe mit seinem gerade auf Deutsch erschienenen Sunset Park den ultimativen Roman zur Finanzkrise geschrieben. Die Handlung spielt im Jahr 2008 – dem Jahr, in dem Lehman Brothers pleite gingen. Und seine Hauptfigur Miles Heller tritt zunächst als ein Profiteur der Krise auf: Der 28-Jährige arbeitet bei einer Entsorgungsfirma in Florida. Die Häuser, die für ihre einstigen Besitzer nicht mehr bezahlbar sind, werden von ihm entrümpelt, damit die Bank sie weiterverkaufen kann.
Als Hobby macht Miles gerne Fotos von Gegenständen, die in den Zimmern zurückgelassen wurden, die einst ein Zuhause waren und jetzt bloß noch Spekulationsobjekte sind. Socken, Tennisschläger oder Lippenstifte verewigt er so – damit findet Paul Auster eine grandiose Metapher für die unbarmherzige Kraft der Krise und für die Verbitterung, die sie zurücklässt.
Im weiteren Verlauf von Sunset Park wird allerdings klar: Miles Heller ist ebenfalls ein Opfer des wirtschaftlichen Niedergangs. Seit Jahren schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch, er lebt in einer winzigen Wohnung und Bücher sind sein einziger Luxus. Allerdings ist es ein selbst gewähltes Schicksal: Miles kommt eigentlich aus gutem Hause. Doch vor sieben Jahren hat er den Kontakt zu seinen Eltern in New York abgebrochen, weil er glaubt, damals den Tod seines Stiefbruders verursacht zu haben. Seitdem zieht er durchs Land, ohne Antrieb, aber mit einem ganzen Sack voller Schuldgefühle.
Es ist eine faszinierende Figur, die Paul Auster da erschaffen hat, und er ergänzt sie in Sunset Park nach und nach durch weitere eindrucksvolle Charaktere. Da ist Pilar, schön, blitzgescheit und schwer verliebt in Miles – aber erst 17 Jahre alt. Weil seine Beziehung zu der Minderjährigen aufzufliegen droht, kehrt Miles wieder nach New York zurück.
Da ist Bing, ein alter Schulfreund, der Miles in seiner Wohngemeinschaft in einem besetzten Haus in Brooklyn aufnimmt. Da sind Alice und Ellen, die beiden Mitbewohnerinnen, die gerne Künstlerinnen wären, sich aber genau wie Bing und Miles trotz einer guten Ausbildung mit schlecht bezahlten anderen Jobs durchschlagen müssen. Und da sind Miles‘ Eltern, ein renommierter Verleger und eine berühmte Schauspielerin, die seit seinem Verschwinden auf eine Versöhnung mit dem Sohn hoffen.
Sie haben fast alle Geldprobleme, sie haben fast alle das verloren (oder noch nicht gefunden), was ihnen als Kompass im Leben dienen könnte. Ohne Zweifel hat Auster damit ein perfektes Ensemble für einen Krisenroman zusammen. Und erstmals in seiner Karriere erzählt der Autor in Sunset Park, seinem 16. Roman, aus verschiedenen Perspektiven. Die Kapitel haben schlicht die Namen der Figur, um die es gerade geht.
Der große Wurf ist Sunset Park trotzdem nicht. Auster kann eine sexuell frustrierte Möchtegernmalerin wie Ellen ebenso famos schildern wie einen Elder Statesman der New Yorker Intelligenzija wie Miles‘ Vater. Sein im Vergleich zu früheren Werken reduzierter Stil steht ihm sehr gut, zudem glänzt er mit Detailwissen, von Baseball über das Schlagzeugspielen bis hin zur Deutung von Samuel Becketts Glückliche Tage.
Aber an etlichen Stellen will Sunset Park eindeutig zu viel. Da pfropft Paul Auster auch noch seine Gedanken über Liu Xiaobo, den Niedergang der Buchbranche oder den Tod der Schriftstellergeneration um John Updike und Susan Sontag in seinen Roman. Das ist nicht nur überflüssig, sondern oftmals auch nicht überzeugend integriert.
Das beste Beispiel dafür ist William Wylers Film Die besten Jahre unseres Lebens, der als Leitmotiv immer wieder in Sunset Park thematisiert wird. Der Film, der 1947 mehrere Oscars gewann, erzählt von den Schwierigkeiten, die US-Soldaten nach ihrer Heimkehr nach dem Zweiten Weltkrieg hatten. Auster lobte das Drama unlängst in einem Interview als «einen der zehn besten Filme, die je in Hollywood gedreht wurden». Dass noch mehr als 60 Jahre später quasi alle Figuren des Romans zumindest ab und zu mit der Exegese dieses Streifens befasst sind, ist trotzdem nicht plausibel.
Mitunter wirkt der 65-jährige Autor wie betört von der Vergangenheit. Er schwelgt in Anekdoten über Baseballspieler, er lässt einen seiner Protagonisten in einer «Klinik für kaputte Dinge» antike Schreibmaschinen reparieren, und er glorifiziert eben Filme aus den Nachkriegsjahren. Das macht Sunset Park, von Auster innerhalb von nur sechs Monaten geschrieben, gelegentlich ein wenig unausgegoren. Es zeigt aber auch: Hier ahnt einer den Untergang einer Epoche. Er schreibt nicht dagegen an, aber er möchte etwas davon bewahren – wie Miles Heller mit seinen Sockenfotos.
Bestes Zitat: «Sein Vater war keiner dieser warmherzigen Kumpelväter, die ihre Söhne zu ihren besten Freunden machen wollen, er war einfach nur ein Mann, der sich für seine Frau und seine Kinder verantwortlich fühlte, ein stiller, ausgeglichener Mann, der das Talent besaß, Geld zu machen, (…) aber auch wenn sie einander nicht so nahe waren wie manch andere Väter und Söhne, auch wenn Sport das einzige Thema war, über das sie je mit Leidenschaft debattiert hatten, wusste er ganz genau, dass sein Vater ihn respektierte, und dieser von Anfang bis Ende nie nachlassende Respekt wog mehr als jede offene Liebeserklärung.»