Autor | Rosa Liksom |
Titel | Abteil Nr. 6 |
Verlag | DVA |
Erscheinungsjahr | 2011 |
Bewertung |
Schon lange ist sie verliebt in Russland. Ihr Vater hatte einst in Moskau studiert. Als sie ihn dort besuchte, wollte sie unbedingt mehr entdecken von diesem Land. Jetzt sitzt die junge Frau, eine finnische Archäologiestudentin, im Zug von Moskau nach Ulan-Bator. In der russischen Hauptstadt lässt sie irgendeine verwirrte und verwirrende Vergangenheit zurück, in der Mongolei will sie historisch wertvolle Felsinschriften begutachten.
Eigentlich wollte sie diese Reise mit ihrem Freund Mitka machen, doch der ist in der Irrenanstalt gelandet. Jetzt ist sie alleine unterwegs, nur begleitet von ihren Erinnerungen und dem schwatzhaften, einsamen, vulgären Wadim, mit dem sie sich auf der tagelangen Zugfahrt das Abteil Nr. 6 teilt. Ihr Mitreisender wirkt mal wie ein Kneipentölpel, mal wie ein Philosoph. Er beschreibt sich selbst als einen „alten Kerl mit einer betrübten Seele voller tristem Frieden. Mit einem Herzen, das nicht mehr vor Gefühl schlägt, sondern nur noch aus reiner Gewohnheit. Keine verrückten Streiche mehr, nicht einmal Schmerz. Bloß Langeweile.“ Die junge Frau ist irritiert von dem Metallarbeiter. „Seine Dreistigkeit, seine Art, die Wörter zu dehnen, sein Lächeln, sein verächtlicher, sanfter Blick“ – all das fasziniert sie, und dennoch ist sie gelegentlich angeekelt, sogar eingeschüchtert von diesem Fremden.
Die Beziehung zwischen der jungen, sensiblen Finnin und dem älteren, grobschlächtigen Russen ist der wichtigste Inhalt von Abteil Nr. 6. Rosa Liksom, geboren 1958 in Nordfinnland und nach einigen Stationen im Ausland (auch in der Sowjetunion) mittlerweile wieder in Helsinki lebend, hat mit dem Buch in ihrer Heimat große Erfolge gefeiert: 100.000 Exemplare wurden von ihrem dritten Roman verkauft, 2011 erhielt sie für Abteil Nr. 6 den Finlandia-Preis, den wichtigsten finnischen Literaturpreis.
Ihre Figuren sind wunderbar, die Spannung zwischen den beiden Reisegefährten bleibt das ganze Buch über knisternd. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil die (namenlose) junge Frau beinahe stumm erscheint. Erst auf Seite 207, kurz vor Ende des Romans, ist sie erstmals in wörtlicher Rede zu hören. Davor scheint sie gar nichts zu sagen.
Fast genauso bedeutend wie die Geschichte dieser schonungslosen Beziehung ist in Abteil Nr. 6 aber das, was an den Fenstern des Zuges vorbeirauscht. Rosa Liksom schildert Russland ebenso exotisch wie vertraut, als ein Land im Wandel, einen seltsamen Mix aus Kultur und Verfall, Großmacht und Entwicklungsland, Hightech und Pampa.
Licht, Tiere, Wolken oder Bäume links und rechts der Bahnstrecke werden immer wieder beschrieben, im ständigen Wechsel und offensichtlich doch verbunden durch etwas Ewiges, Heiliges, Starkes. Das funktioniert auch, weil Rosa Liksom auf sehr fantasievolle Bilder wie dieses setzt: „Die Atmosphäre hatte etwas Oblomowhaftes, es fiel noch immer der Schnee vom letzten Winter.“
Ob diese Geschichte 1991 spielt oder 2010, ist nicht erkennbar. Dafür wird sehr klar, was die Autorin über das russische Wesen zum Ausdruck bringen will: Es geht in diesem Buch um Stolz, Kultur, Natur und Bezwingung – und um die Tatsache, dass dieses Russland seinen Stolz erstaunlicherweise nicht aus der Kultur oder der Natur bezieht, sondern ausgerechnet aus der Tatsache der Bezwingung des einen durch das andere.
Bestes Zitat: „Hab keine Angst vorm Tod, mein Mädchen, solange du lebst, denn dann gibt es ihn noch nicht. Und wenn du gestorben bist, gibt es ihn nicht mehr.“