Autor | Ryan Bartelmay | |
Titel | Voran, voran, immer weiter voran | |
Otiginaltitel | Onward Toward What We’re Going Toward | |
Verlag | Blessing | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Middleville, Illinois, Anfang der 1950er Jahre: Chic Waldbeeser ist 19 Jahre alt und arbeitet in einer Konservenfabrik. Sein Vater hat Selbstmord begangen, die Mutter ist danach mit einem Lover nach Florida durchgebrannt. Chic hat gerade Diane geheiratet, seine erste Liebe aus der High School und eine Tochter aus gutem Hause.
Chic und Diane sind eines von drei Pärchen, die im Mittelpunkt von Voran, voran, immer weiter voran stehen, dem ersten Roman von Ryan Bartelmay. Der 1975 geborene Amerikaner, der zuvor einige Kurzgeschichten vorgelegt hatte, erzählt darin eine fünf Jahrzehnte umspannende Familiengeschichte. Und er erzählt in diesem Roman, an dem er zehn Jahre lang geschrieben hat, von verklärten Erinnerungen und verkehrten Träume. Seine Figuren haben mit allerlei Widrigkeiten zu kämpfen. Sie leiden aber vielleicht am meisten an der Tatsache, dass sich die Vergangenheit (oder das, was wir als Erinnerung daraus formen) mindestens genauso sehr beeinflussen lässt wie die Zukunft.
Da ist Buddy, der ältere Bruder von Chic, der durchs Leben zu irren scheint, bis er seine exotische Frau Lijy kennen lernt und halbwegs sesshaft wird. Da ist Mary, eine Profi-Billardspielerin mit einem extrem guten Händchen, wenn es darum geht, die Kugeln zu versenken, aber einem notorisch schlechten Händchen bei der Auswahl ihrer Männer. Und da ist Green, der Mann jenseits des Rentenalters, der für Mary vielleicht doch noch das ersehnte Glück bedeuten könnte.
Die Protagonisten sind normale Menschen, sogar schlichte Gemüter, aber das bewahrt sie nicht davor, all die Verzweiflung zu spüren, die das Leben bereithalten kann, in all ihrer abgrundtiefen Intensität. Die Wahrheit erkennen, den aufrechten Weg durch das eigene Leben finden, die richtigen Entscheidungen treffen – all dem müssen auch sie sich tagtäglich stellen. Weil es so viele Menschen gibt, denen es so geht, mag das banal erscheinen. Aber das ist es natürlich keineswegs.
Nach gut 100 Seiten von Voran, voran, immer weiter voran bemerkt man, dass es zwar eine Handlung, aber keinen absehbaren Konflikt gibt. Ohne das Epigraph dieses Romans („Jeder Idiot kann eine Krise meistern; es ist der Alltag, der uns zermürbt“, ein Zitat von Anton Tschechow) hätte es vielleicht noch länger gedauert, bis dieser Umstand auffällt. Aber das ist gar nicht schlimm, weil die Figuren so faszinierend sind und ihr Ringen um ein kleines Glück so heroisch.
„Die Figuren im Debüt des Amerikaners Ryan Bartelmay haben eine Seltsamkeit, wie man sie wohl nur im Mittleren Westen der USA findet“, hat Glamour über diesen Roman geschrieben, aber diese Interpretation erfasst nur einen winzigen Teil des Reizes von Voran, voran, immer weiter voran. Das Buch ist zwar gelegentlich ein wenig zu eindeutig konstruiert, aber keine Milieustudie, kein Kuriositätenkabinett und schon gar keine Regionalgeschichte. „Ich bin in Morton, einer Kleinstadt mitten in Illinois, aufgewachsen, und viele Orte aus dem Buch gibt es wirklich“, sagt Ryan Bartelmay, „trotzdem wollte ich nicht, dass jemand dieses Buch liest und denkt, die Figuren und ihre Handlungen wären repräsentativ für die Menschen, die in Illinois leben.“ Die Stärke seines Romans liegt vielmehr in dem Verdienst, die Universalität menschlicher Tragik zu erkennen und sie anhand scheinbar unspektakulärer Lebenswege aufzuzeigen.
Nach und nach stärkt Voran, voran, immer weiter voran, das ursprünglich ebenfalls als Kurzgeschichte gedacht war und von Ryan Bartelmays eigener Familiengeschichte inspiriert ist, den Verdacht: Es ist gar nicht das Leben, das die Figuren in diesem Buch unglücklich macht, sondern die Fantasie, sie könnten ein besonderes Leben führen, hätten ein solches womöglich sogar verdient. Mary bekommt diesen Floh durch ihren Lieblingsfilm Pretty Woman ins Ohr gesetzt, bei Chic und Buddy geschieht es durch die Lügen, die ihnen ihr Großvater über die angeblich glorreiche Familiengeschichte aufgetischt hat, als sie Kinder waren. Und bei Diane wirkt die von ihr mit heiligem Ernst verfolgte Radiosendung von Norman Peale, der die Kunst des positiven Denkens preist, in diese Richtung.
„Nein, das ist kein Leben. Es muss ein besseres geben. Schau uns doch an. Wir sind die reinsten Ruinen. Verkorkst. Ich möchte wissen, was ich tun kann, damit das endlich aufhört“, sagt Chic an einer Stelle zu seinem Bruder – genau dieser Wunsch reibt Chic und Diane, Buddy und Lijy, Mary und Green auf. Ihr Verhängnis ist gar nicht so sehr das Unglück, das ihnen gelegentlich widerfährt. Ihr Verhängnis sind die Träume von einem sorgenfreien Leben, die ihnen eingeredet werden.
Bestes Zitat: „Sein Wunsch nach einer Verbindung zu einem Menschen oder einer Sache war so stark, dass er sich fühlte, als würde in seinem Inneren ein Mixer rotieren und ständig seine Sehnsucht umrühren.“