Autor | Sadie Jones | |
Titel | Jahre wie diese | |
Otiginaltitel | Fallout | |
Verlag | DVA | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
„Wahrhaft Liebende betrachten alles was sie bisher empfunden nur als Vorbereitung zu ihrem gegenwärtigen Glück, nur als Base, worauf sich erst ihr Lebensgebäude erheben soll. Vergangene Neigungen erscheinen wie Nachtgespenster, die sich vor dem anbrechenden Tage wegschleichen.“
Johann Wolfgang von Goethe
Solche Art der Liebe, die alles Vergangene auslöscht und alles Gegenwärtige in den Schatten stellt, findet man in Jahre wie diese, dem vierten Roman von Sadie Jones (Der Außenseiter). Es ist die Liebe zwischen Luke und Nina.
Er ist ein hochbegabter Sonderling, sein Vater ist ein depressiver Trinker („Er trug seine Welt mit sich herum wie eine Schildkröte ihren Panzer, nahm an nichts teil und hätte überall sein können“, heißt es), seine Mutter ist im Irrenhaus, seit Luke ein kleiner Junge war.
Der 22-Jährige ist auf dem besten Weg, mit einer Spießer-Laufbahn in einer Kleinstadt in der Provinz zu versauern, und er merkt das auch. „Niemand zwang ihn, seine Welt so klein zu machen, so geschlossen, so idiotisch, widersinnig, obsessiv, monomanisch – gib es zu, sagte er zu sich selbst: so irrsinnig eng, wie er es tat. Er hatte sich selbst ein Gefängnis geschaffen“, stellt er fest, als er in einer regnerischen Nacht einem Pärchen aus London in einem Mini Cooper begegnet, das für ihn die Tür in eine andere Welt öffnen wird.
Nina ist Schauspielschülerin und lebt als junge Frau noch bei ihrer Mutter, die einst ihre überschaubare Schauspielkarriere aufgeben musste, als sie mit Nina schwanger wurde. Sie steht unter der Fuchtel ihrer Mutter, bis sie (ausgerechnet) mit der Rolle einer Gefangenen den großen Durchbruch feiert, wenig später den wohlhabenden Theaterwelt-Impresario Tony heiratet und dann nach und nach erkennt, dass die Ehe mit ihm noch ungesünder ist als die Beziehung zu ihrer Mutter, die ihr weder ihre Jugend noch ihr Talent und ihre Karriere gegönnt hatte.
Luke und Nina oszillieren umeinander, zunächst ohne es zu wissen. Als sie sich schließlich begegnen, verbindet sie ein so unbedingtes Begehren, dass ihr schon schwindlig wird, wenn sie in einer Menschentraube auf einer Party bloß den Ärmel seines Hemdes sieht – und all das, bevor sie jemals ein Wort, geschweige denn einen Kuss ausgetauscht haben. Dass es Sadie Jones gelingt, dieses Ausmaß an Liebe glaubwürdig, sogar fast zwangsläufig erscheinen zu lassen, ist die erste große Leistung dieses Romans.
Die zweite große Leistung ist die Lebendigkeit, mit der die Autorin eine vergangene Ära wieder auferstehen lässt. Die Handlung von Jahre wie diese beginnt 1972, es gibt Rückblenden in die Jahre 1961 und 1968. Jones (Jahrgang 1967!) schreibt nicht nur, als hätte sie diese Ära erlebt, sondern als hätte sie sie erlebt und sei auch 40 Jahre später noch nicht darüber hinweggekommen, dass sie vorbei ist.
„Jeder, der denken konnte, ging ins Theater – und redete darüber, stritt darüber. Theater war wichtig“, sagt Sadie Jones. „Die Sechzigerjahre hatten ‚Schicklichkeit’ und Zensur abgeschafft, aber Shows wie das Musical ‚Hair’ ebneten nicht nur künstlerischer Freiheit den Weg, sondern ebenso billigen West-End-Komödien, Sex-Revuen und Striplokalen“, erklärt die gebürtige Londonerin ihre Faszination für diese Zeit, die sich hier auch in einer beachtlichen Rechercheleistung niederschlägt. „Laurence Olivier kämpfte um eine bleibende Spielstätte für das National Theatre; Tom Stoppard, Simon Gray, Caryl Churchill und andere schrieben Stücke von selten erreichter Meisterschaft, aber das Establishment war immer noch reaktionär und sexistisch, und die Geschmacklosigkeit der Popkultur erreichte ungeahnte Höhen.“
Die ebenso kreative wie liberale Dreier-WG, die Luke mit Paul und Leigh bildet, dem besagten Pärchen mit dem Mini Cooper, ist so etwas wie ein Konzentrat der Nachwehen von Swinging London. Der freie Produzent Paul wird sein bester Freund, zu dessen Freundin Leigh hat Luke ebenfalls eine höchst innige (und zumindest beinahe platonische) Beziehung. „Wenn es in den Sechzigern darum gegangen war, den Teetisch umzustoßen, dann waren die Achtziger bemüht, ihn wieder aufzustellen und für ein Businesslunch zu decken. Die Siebziger meines Romans wären dann vielleicht die Partys dazwischen“, sagt Sadie Jones – und die Ménage-à-trois zwischen Luke, Paul und Leigh feiert kräftig mit.
Das Leben der vier Hauptpersonen ist die Bühne, alles dreht sich für sie ums Theater. Zu dritt bauen sie eine eigene Spielstätte namens Graff auf und setzen dort unkonventionelle Inszenierungen aufs Programm. Luke arbeitet derweil heimlich an seinem eigenen Drama. „Das Stück war Lukes engster Gefährte und erbittertster Feind. Es war das Beste, was er zustande brachte. Es musste besser werden, als er selbst es war. Es war für ihn Arbeit, Spiel und Flucht. Er liebte es und schämte sich ebenso sehr für dessen Mängel wie für seine eigenen. Bis er sich eines Mittwochnachmittages widerstrebend eingestehen musste, dass es fertig war“, heißt es.
Weder diese Besessenheit noch die Heimlichtuerei von Luke, wenn er auf sein Stück angesprochen wird, erscheinen irgendjemandem in seiner Umgebung fragwürdig. Denn die Kunst im Allgemeinen und das Theater im Besonderen sind für alle Protagonisten in Jahre wie diese das höchste Gut. Arbeit und Spaß fallen für sie zusammen, und sie gestalten sich ihre ganz eigene Welt, weil sie auf der Bühne eine Harmonie empfinden können, die sich abseits davon einfach nicht einstellen will. Sie leben in einer Zeit, die (ebenso wie die Kunst) nach einem Ideal strebt – sie machen allerdings den verzeihlichen Fehler, dieses Ideal auch abseits der Bühne in die Tat umsetzen zu wollen, in ihrem täglichen Leben, in ihren persönlichen Beziehungen.
Das führt zu einer emotionalen Tiefe und Wahrhaftigkeit, die ein weiterer großer Pluspunkt des Buches ist. „Da drehte er sich um und sah sie direkt an, aber anders als sie es erwartet hatte, sah sie keinen Zorn, sondern Wahrheit. Sie hatte ihn verletzt, tat es immer noch. Sie hasste es, aber irgendwo tief in ihrem Inneren war sie auch froh, dass sie ihm so viel bedeutete, und schämte sich gleichzeitig“, ist eine der Stellen, an denen das besonders deutlich wird.
Sadie Jones schafft es wunderbar, zu zeigen, dass nicht nur das Theater, sondern auch die Zweisamkeit von ihren Figuren als eine Flucht begriffen wird, von der sie sich Rettung erhoffen, eine Garantie für Romantik und eine emotionale Sicherheit, die entweder darin besteht, dass alles nur Schauspiel ist, oder in einer wahren Liebe münden soll, die stärker ist als jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jedes Kindheitstrauma.
Jones lässt daraus die zentralen Konflikte ihres Romans erwachsen, die sich rund um Mut, Vertrauen, Täuschung und Loyalität drehen. Jeder wünscht sich eine Rolle, eine Bühne und ein Stück nach seinem Geschmack und muss dann feststellen, dass andere Regie führen. Auch Luke und Nina müssen erkennen: Sie brauchen nicht die allumfassende, makellose Liebe, sondern einen Rest von Sehnsucht, eine wenigstens minimal Abweichung von der völligen Glückseligkeit, um kreativ sein zu können. Das ist die vielleicht tragische Quintessenz von Jahre wie diese: Kunst braucht Unglück.
Bestes Zitat: „Und immer noch wusste er nichts zu schreiben. Sein Blick war unerträglich scharf auf die nun so begrenzte Welt eingestellt. Sein ganzes Leben lang hatte es in ihm so viele andere Leben gegeben, dass er sie für selbstverständlich gehalten hatte. Wenn er jetzt hinsah, war da nur Leere. Er schrieb nicht, konnte sich das Schreiben nicht einmal vorstellen. Sie hatte ihn innerlich ausgehöhlt.“