Autor*in | Sasha Grey | |
Titel | The Juliette Society | |
Verlag | Heyne Hardcore | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Rund 1500 Pornodarsteller gibt es alleine im San Fernando Valley, der Hochburg der Industrie. Jedes Jahr kommen (trotz oder wegen des Internets) mehr als 10.000 Porno-DVDs neu auf den deutschen Markt. Schon die reine Statistik lässt es bei dieser Menge also nicht allzu unwahrscheinlich erscheinen, dass unter all diesen Menschen auch jemand sein könnte, der literarisches Talent besitzt.
Und doch will man das nicht so recht glauben. Das Klischee besagt, dass niemand freiwillig in der Sexbranche landet. Schlimme Kindheit, Geldnot, Drogensucht – das wird unterstellt, der Verdacht eines wenig ausgeprägten Intellekts geht damit einher. Sasha Grey, geboren 1988 in Kalifornien, ist nicht nur das Gegenbeispiel für diese These. Sie behauptet auch, die gängigen Vorstellungen der Pornobranche gingen völlig an der Realität vorbei. Sie selbst entschied sich mit 18, in das Geschäft einzusteigen, aus purer Lust darauf, ihre Sexualität zu erkunden und sich dafür bezahlen zu lassen.
Sie wurde zur erfolgreichsten Porno-Newcomerin aller Zeiten und hat bis zu ihrem Ausstieg aus dem Geschäft innerhalb von fünf Jahren in mehr als 250 Hardcore-Filmen mitgespielt. Für alle, die nicht mit ihrem Werk vertraut sind und keine Vorstellung davon haben, was mit „Hardcore“ nun genau gemeint ist: Sie hat vom Branchenverband schon Auszeichnungen etwa für die beste Gruppensexszene (mit insgesamt 20 Beteiligten) oder die beste Analsexszene bekommen.
Danach ist sie als Nicht-Nackt-Schauspielerin beispielsweise im Kinofilm The Girlfriend Experience oder der Fernsehserie The Entourage zu sehen gewesen, außerdem ist sie als Musikerin aktiv. Sie ist ein Star weit jenseit der Welt der Wichsvorlagen. Der Rolling Stone hat sie als „das schmutzigste Mädchen der Stadt“ auf die Titelseite gehoben, für Die Welt ist sie das „Unikum, das aus dem Porno kam und im Pop gelandet ist“, sie selbst sagt im Interview mit Spiegel Online: „Ich wurde bekannt als Pornodarstellerin, und jetzt repräsentiere ich eine Art Rock’n’Roll-Porno-Popkultur.“
Nun hat Sasha Grey ein Buch geschrieben. Es heißt The Juliette Society, und es handelt natürlich von Sex. Die Hauptfigur ist Catherine, eine Filmstudentin im 6. Semester. Ihr Freund Jack ist nur mit seiner Arbeit beschäftigt, ein Ventil für ihre sexuelle Frustration findet Catherine, als sie ihre Kommilitonin Anna kennen lernt, die zu ihrer besten Freundin wird. Anna steht auf brutalen Sex und bietet sich dafür auch gegen Geld an. „Jeder hat sein Limit. Meines liegt ziemlich hoch“, plaudert sie aus dem Nähkästchen. „Schmerz überlagert Schmerz. Bis ich es nicht mehr aushalte. Und dann wendet sich der Schmerz gegen sich selbst und verwandelt sich in die intensivste Lust, die ich je verspürt habe. Alles verkehrt sich ins Gegenteil. Schmerz wird zu Lust. Lust zu Schmerz. Und ich würde alles tun, was in meiner Macht steht, um das Gefühl noch zu steigern, um dafür zu sorgen, dass es nie aufhört, weil es sich einfach so gut anfühlt.“ Anna führt Catherine schließlich ein in die Juliette Society, einen Geheimbund, in dem die mächtigsten Männer der Welt ihre sexuellen Fantasien mit reichlich jungen Mädchen ausleben – und der für Catherine zum Ort der Selbstfindung wird.
Mindestens so interessant wie diese Geschichte ist beim Lesen die Frage, die man ständig im Kopf hat: Ist das gute Literatur? Kann eine Pornodarstellerin einen gelungenen Roman schreiben? Natürlich muss die Antwort „Warum nicht?“ lauten, aber es fällt nicht leicht, sich zu dieser Objektivität zu ermahnen, wenn doch „Sasha Grey“ auf dem Einband steht und die Autorin ihre Hauptfigur, aus deren Geschichte sie übrigens eine Romanserie machen möchte, zudem als Alter Ego bezeichnet. Man ist geneigt, besonders kritisch zu sein („Kann doch nichts taugen!“), oder einen Mitleidsbonus zu geben („Gar nicht schlecht für eine Porno-Queen!“). Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen: The Juliette Society ist kein Schund, aber auch kein Meisterwerk der erotischen Literatur. Der Stil von Sasha Grey ist solide, ihr Plot bietet einige durchaus clevere Wendungen, nicht zuletzt punktet der Roman mit zahlreichen Verweisen etwa auf Luis Buñuels Belle de Jour oder Die 120 Tage von Sodom des Marquis de Sade (das Sasha Grey als 16-Jährige gelesen hat).
Zudem ist sie klug genug, nicht in die Groschenroman-Falle zu tappen: Statt ihre Erzählerin von eigener Erfahrung und unmittelbarer Lust erzählen zu lassen, lässt sie (zumindest am Beginn des Romans) lieber andere zu Wort kommen: Catherine beschreibt Fantasien, Filme, Erinnerungen, sogar Briefe von Frontsoldaten an ihre Geliebten zuhause. Das Indirekte ist dabei ein Schutzschild, das auch den etwas misslungenen Kopulationsbeschreibungen oder besonders expliziten Passagen etwas von ihrer Angriffsfläche nimmt. Etwa in der Szene, als Catherine auf einem Internet-Video entdeckt, was Anna so in ihrer Freizeit treibt: „Und dieser Drilldo wummert auf Annas Muschi ein wie ein Presslufthammer. Ihre Augen haben sich komplet nach hinten verdreht. Ihr Körper bebt, so wie einem die Hände beben, wenn man einen Elektrobohrer bedient. Ihr ganzer Körper. Als wäre sie in einem Windkanal auf einen Stuhl gefesselt. Und sie schreit. So wie man schreit, wenn der Wagen auf der Achterbahn über die erste große Kurve kippt und man nur noch den tiefen Abgrund sieht, der auf einen zurast. Ein Schrei der puren Lust und des schieren, unendlichen Grauens.“
Gewalt und Brutalität sind nicht nur in dieser Szene, sondern im gesamten Roman die wichtigsten Spielarten von Sex (das Buch sei „wie Fight Club – nur dass hier gevögelt wird“, meint Sasha Grey). Das passt zum Zusammenspiel von Lust und Macht, Gier und Scham, Hingabe und Gewalt, dem die Autorin hier nachspürt. Gerade wegen dieses Kontextes ist The Juliette Society viel besser als beispielsweise Fifty Shades Of Grey. Denn statt Seifenopern-Sado-Maso zu zelebrieren, werden hier tatsächlich Fragen nach dem Wesen der Sexualität gestellt. Es geht in diesem Roman um Sex als Leitfaden, Machtmittel und Lebensinhalt, es geht aber auch um Beziehungen insgesamt, um Männer und Frauen, um Konventionen und Triebe und um die Gesellschaft als Ganzes. Was Sasha Grey dabei am meisten stört, ist offensichtlich Bigotterie. „Letztlich ist Pornografie wie McDonald’s, viele schimpfen darüber, aber fast jeder nutzt sie“, hat sie in einem Interview gesagt, und diese Botschaft spricht auch aus The Juliette Society. Sie durchschaut das Geschäft mit der körperlichen Liebe und seziert es; sie plädiert dafür, es nicht zu verdammen und nicht zu glorifizieren, sondern hinzunehmen.
Damit wirft das Buch, und das ist seine größte Qualität, ein paar spannende Fragen auf. Warum soll das, was Kim Kardashian – auf die es im Roman ein paar fiese Seitenhiebe gibt – tut, etwas anderes sein als Prostitution? Ist es noch Unterwerfung, wenn man sich aus Lust unterwirft? Ist man ein Sexobjekt, wenn man sich freiwillig als solches anbietet? Und warum nehmen wir bestimmte (wohlgemerkt: einvernehmliche) Spielarten von Sex als Überschreitung wahr – warum glauben wir da überhaupt eine Grenze zu erkennen, die es zu überschreiten gilt, wenn es doch eine innere Kraft in uns gibt, die uns unwiderstehlich auf die andere Seite zieht?
Wahrscheinlich ist es die letzte Frage, die zu Sasha Greys wichtigster Botschaft führt: Sex kann absolute Freiheit sein, dafür ist sie selbst (auch abzüglich aller Selbstvermarktung) das beste Beispiel. Aber eine nicht ausgelebte Sexualität kann auch zum ewigen Gefängnis werden.
Bestes Zitat: „Es wird immer Mädchen geben, die bereit sind, sich ausbeuten zu lassen, und es wird immer Typen geben, die ihnen dabei gerne behilflich sind. So war das schon immer, und so wird es immer sein.“