Autor | Stefan Ahnhem | |
Titel | Und morgen du | |
Originaltitel | Offer utan ansikte | |
Verlag | List | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Kommissar Fabian Risk zieht von Stockholm nach Südschweden, mit seiner Frau und den beiden Kindern. Das neue Zuhause ist zugleich die Gegend, in der er seine Kindheit verbracht hat, doch Heimweh ist nicht der Grund für den Umzug. Viel eher will der 43-Jährige versuchen, im beschaulichen Helsinborg seiner Ehe neues Leben einzuhauchen, die auf dem besten Weg ist, in die Brüche zu gehen. Außerdem gab es einen Eklat bei der Polizei in Stockholm nach einem Einsatz, in dem Risk keine allzu rühmliche Rolle spielte.
Er hat sechs Wochen Urlaub genommen, um sich ausgiebig der Familie widmen zu können, bevor er seinen neuen Job bei der Polizei in Helsingborg antritt. Doch dann geschieht ein Mord, bei dem seine Mithilfe schon eher gefragt ist. Denn das Opfer ist ausgerechnet ein alter Klassenkamerad von Fabian.
Mit dieser Szenerie lässt Stefan Ahnhem seinen ersten Roman Und morgen du beginnen. Der Schwede, Jahrgang 1966, war bisher als Drehbuchautor (unter anderem für die Filme der Wallander-Reihe) tätig und plant eine ganze Serie mit Krimis rund um den ungewöhnlichen Kommissar („Risk war ein guter Polizist, er gehörte sogar zu den besten, aber er ging seinen eigenen Weg, und man wusste nie, wohin ihn der führte und welche Konsequenzen das hatte“, wird er an einer Stelle charakterisiert). Man darf das als Versprechen werden: Und morgen du ist ein fulminanter Auftakt der Reihe.
Wie der deutsche Titel (in Schweden erschien das Buch als Offer utan ansikte, übersetzt: Opfer ohne Gesicht) vermuten lässt, bleibt es nicht bei einer einzigen Leiche: Nach und nach werden immer mehr ehemalige Mitschüler von Kommissar Risk ermordet, bis klar ist, dass er auch selbst im Visier des Täters steht. Gelegentlich wirkt der Roman ein wenig zu kalkuliert, beispielsweise die permanenten Hinweise auf Musik (zu den Favoriten von Kommissar Risk gehören Bon Iver und Kate Bush) wirken eher gezwungen, wie eine Regieanweisung für die offensichtlich bereits mitgedachte TV-Adaption. Auch die schiere Zahl der Opfer und die stets perfekte Inszenierung der Taten schießen ein wenig übers Ziel hinaus. Solche Schwächen macht der Roman aber durch enorme Spannung und den Willen wett, einen besonderen Charakter zu entwickeln.
Das gilt nicht nur für die Persönlichkeit von Risk, sondern auch für den ungewöhnlichen Einfall, in Und morgen du immer wieder auf die Probleme der Work-Life-Balance zu verweisen. Anders als in Krimis üblich, wird hier nicht alles der Ermittlungsarbeit untergeordnet. Es gibt in diesem Buch stattdessen Polizisten, die auch noch etwas anderes zu tun haben als Serienkiller zu jagen. Es gibt Ämter und Behörden, deren Mitarbeiter auch bei größter Dringlichkeit des Falls pünktlich Feierabend machen. Und Gerichtsmediziner, die gedanklich schon im Urlaub sind und eine allenfalls sehr oberflächliche Leichenschau vornehmen.
Erstaunlich ist auch, dass in Und morgen du nicht der Ermittler wie ein Superheld wirkt, sondern der Killer: Er ist beherrscht, gut organisiert und hoch intelligent, das Spektrum seiner Fähigkeiten deckt Chirurgie ebenso ab wie Computertechnik und Anthropologie. Ahnhem nimmt sich viel Zeit, um die Motivation seines Täters deutlich zu machen und beweist dabei – ebenso wie bei den Porträts der einzelnen Schüler aus der Klasse – ein gutes Gespür für Psychologie und Milieus. Die Opfer sind für den Killer, wie es gegen Ende heißt, „nur noch Statisten in seinem Film. Eine graue, nichtssagende Masse. Eine Gruppe von Verlierern, die ein so uninteressantes Leben führten, dass er sich die Frage stellte, warum sie überhaupt Lust hatten, davon zu erzählen. Geschweige denn, es zu leben.“
Zu Ahnhems Vorliebe, Motiven genau auf den Grund zu gehen, passen auch die Tagebucheinträge (des Täters?, fragt man sich als Leser schnell, ohne allzu bald eine Antwort darauf zu bekommen), mit denen der Autor die Handlung immer wieder unterbricht. Sie enthalten schockierende Beschreibungen von Mobbing in der Schule, beinahe noch brutalere Bekenntnisse des Selbsthasses und gruselige Gewaltfantasien. „Wenn ich mit mir selbst in eine Klasse ginge, würde ich mich auch mobben. Ich bin minderwertig. Eine Missgeburt. Ich hasse mich“, heißt es da etwa.
Auch diese Idee trägt zum Reiz dieses Krimis bei, in dem der Autor sehr gekonnt Köder für die Ahnungen des Lesers auslegt, zugleich aber genug Überraschungen bietet und Einiges (etwa die ominöse Vorgeschichte, die Risk bei der Polizei in Stockholm so viel Ärger eingebracht hat) auch ganz im Unklaren lässt und womöglich für die folgenden Teile aufhebt. Ahnhem erzählt mit hohem Tempo und hält sein Romandebüt bis zur letzten Seite spannend. „Ich habe es in einem Zug durchgelesen“, lobt Kollege Åke Edwardson – wer die nötige Zeit für die knapp 550 Seiten mitbringt, wird es ihm sicher gleichtun.
Bestes Zitat: „Er hatte es erst als Erwachsener begriffen. Das Böse war von Geburt an da, während das Gute antrainiert, anerzogen und kultiviert werden musste. Das Böse dagegen kam mühelos allein zurecht und brachte es mit den Jahren zu einer beachtlichen Kunstfertigkeit.“