Autor | Stefanie de Velasco |
Titel | Tigermilch |
Verlag | Kiepenheuer & Witsch |
Erscheinungsjahr | 2013 |
Bewertung |
Milch, Maracujasaft und Mariacron. Das sind die Zutaten für Tigermilch, den titelgebenden Cocktail für diesen Debütroman und das Lieblingsgetränk der beiden 14-jährigen Hauptfiguren Nini und Jameelah.
Man kann in diesem Rezept auch ein paar der wichtigen Zutaten für das Buch von Stefanie de Velasco erkennen. Die Milch steht für einen Rest von Kindheit, der Maracujasaft für den Traum von der großen weiten Welt und der Weinbrand für das Verbotene. Den Rest von Kindheit spüren Nini und Jameelah immer wieder in sich, gegen ein anderes Leben an exotischen Stränden hätten sie sicher nichts einzuwenden, und mit dem Verbotenen haben sie schon mehr als genug Erfahrung.
Sie leben in einer Berliner Hochhaussiedlung, die Verhältnisse sind nicht prekär, aber doch zerrüttet: fehlende Väter, Kiffen, Nachsitzen und Ladendiebstahl prägen das Leben der beiden besten Freundinnen. Ab und zu machen sie sich sogar einen Spaß daraus, sich in Ringelstrümpfen auf dem Babystrich herumzutreiben und dort die Kerle geil zu machen. Ihr Plan für die Sommerferien lautet: Sie wollen sich entjungfern lassen.
Nini, die als Ich-Erzählerin auftritt, und Jameelah, der in drei Monaten vielleicht die Abschiebung in den Irak droht, sind zwei tolle Hauptfiguren, und das Beste an Tigermilch ist dabei, dass es in dieser Milieustudie nirgends einen erhobenen Zeigefinger gibt, und auch keinen Voyeurismus, der sich am ach so verdorbenen Alltag von Großstadtteenagern weidet.
Das Zweitbeste an diesem Roman ist der gekonnte Sound, den Stefanie de Velasco (Jahrgang 1978) findet. Der ist mit Jugendsprache und Slang authentisch genug, um Tigermilch auch als Jugendbuch zu funktionieren zu lassen („Für Mädchen“, lautet die Widmung ganz am Beginn des Buchs), schafft es aber auch, den Erlebnissen von Nini und Jameelah so etwas wie Tiefgang, Witz und sogar Glamour zu geben. „Am Ende hat man den Eindruck, geohrfeigt worden zu sein – und dazu das Bedürfnis, dafür auch noch Danke zu sagen“, hat Nadine Hemgesberg in der Welt diesen Effekt umschrieben.
Denn trotz aller Leichtigkeit hat Tigermilch doch eine nachhaltige Wirkung. Die Summe aus kleinen Abenteuern und großen Tragödien, aus unbeschwerten Tagen im Freibad und Streitereien von zutiefst verletzender Ehrlichkeit macht klar: Das Heranwachsen ist hier nirgends Verheißung, die Zukunft niemals ein Versprechen.
Alle Figuren in Tigermilch sind nicht nur erstaunlich abgebrüht, sondern auch schon ein bisschen abgestumpft. Niemand träumt hier davon, später die Welt auf den Kopf stellen zu können, alle sind schon froh, wenn sie von der Härte des Lebens nicht allzu früh und allzu oft in die Knie gezwungen werden. Das Erwachsenenleben kann ihnen nichts bieten, was sie nicht jetzt schon haben, aber es wird ihnen ihre Narrenfreiheit rauben, und vielleicht den Glauben an die Unverbrüchlichkeit ihrer Freundschaft. Stefanie de Velasco hat erkannt, was schon immer galt, und heute vielleicht noch ein bisschen mehr: Um die Pubertät zu überstehen, braucht man eine ganze Menge Kraft – und ein erstaunliches Maß an Tapferkeit.
Bestes Zitat: „Ihre Mutter verkriecht sich in Tariks Armen, sie legt die Hände auf seine breiten Schultern und formt sie zu kleinen Fäusten, ich sehe, in der einen Faust hält sie ein weißes zusammengeknülltes Taschentuch. Immer diese Taschentücher, denke ich, wie kleine Stofftiere, nur für Mütter, nur für Sorgen, traurig geknetete Tierchen aus Tränen, jedes mit seiner eigenen Geschichte.“