Autorin | Téa Obreht |
Titel | Die Tigerfrau |
Verlag | Rowohlt Berlin |
Erscheinungsjahr | 2011 |
Bewertung | ***1/2 |
«Der Krieg hatte alles verändert. Einmal getrennt, verloren die Gegenden, aus denen sich unser Land bis dahin zusammengesetzt hatte, die typischen Merkmale, die sie zuvor als Teile des Ganzen charakterisiert hatten», schreibt Téa Obreht über das, was vor rund 20 Jahren auf dem Balkan begann.
Sie war damals ein kleines Mädchen in Belgrad, und der Krieg war für sie nicht nur unsinnig, sondern auch höchst verwirrend. «Wahrzeichen, Schriftsteller, Wissenschaftler, die Geschichte – die Karten wurden völlig neu gemischt. Jener Nobelpreisträger war nicht mehr unserer, sondern ihrer; unser Flughafen war nach dem verrückten Erfinder benannt, der jetzt nicht mehr zu unserer Gemeinschaft gehörte. Und die ganze Zeit über sagten wir uns, dass irgendwann alles wieder zum Alltag zurückkehren würde.»
Es ist diese Atmosphäre, in der sich ihr Debütroman Die Tigerfrau abspielt. Die Hauptfigur Natalia, eine angehende Ärztin, reist mit ihrer Kollegin Zora in ein Dorf, um Waisen zu impfen. Es ist eines jener Dörfer, das früher wie selbstverständlich zu Jugoslawien gehörte, jetzt aber auf der anderen Seite der neu entstandenen Grenze liegt. Das macht die Aktion, die als Symbol der Versöhnung gemeint ist, so heikel. Werden sie als Fremde oder Freunde empfangen, als Helfer oder Gegner?
Während der Fahrt zum Waisenhaus erfährt Natalia, dass ihr Großvater gestorben ist. Ihre Hilfsaktion wird deshalb immer wieder überlagert von den Erinnerungen an den Opa, an gemeinsame Erlebnisse und die schillernden Geschichten, die der Großvater so gerne erzählt hat – wie die von dem Tiger, der nach einem Bombenangriff aus dem Zoo floh.
Durch dieses Konstrukt entstehen in Die Tigerfrau verschiedene Zeitebenen, die letztlich fast ein ganzes Jahrhundert Geschichte umfassen. Nicht immer schafft es die Autorin, das Geschehen ihrer Handlung nahtlos, zwingend und schlüssig mit den Rückblenden zu verknüpfen. Aber es gelingt Téa Obreht durch diese Herangehensweise, einen höchst ungewöhnlichen Blickwinkel auf den Balkankrieg zu werfen. Politik und Saga, Mentalitätsgeschichte und Märchensammlung, all das ist in diesem «Epochenpanorama» (FAZ) vereint. Mit dem Großvater, dessen Geheimnis in diesem Roman nach und nach gelüftet wird, schafft die Autorin eine unfassbar lebendige, beeindruckende, authentische Figur.
Zudem schwingt in Die Tigerfrau, das 2011 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet wurde, permanent so etwas wie die Mahnung an Einheit und Versöhnung mit. Téa Obreht, geboren 1985 in Belgrad und als Zwölfjährige in die USA gezogen, schildert immer wieder die Klammern und Verwandtschaften auf dem Balkan. Fast detailbesessen beschreibt sie die Landschaft, auch Geschichte, Sprache, Küche und die Ahnen können als Verbindungslinien interpretiert werden. Vor allem aber: die Mythen. «Wir haben alle ein Recht auf unseren Aberglauben», sagt an einer Stelle – ausgerechnet – ein Mönch. Das Irrationale, dem Natalia als Ärztin besonders kritisch begegnet, wird zum roten Faden dieser Geschichte, zum Charakteristikum der Figuren, vielleicht sogar eines ganzen Volkes.
Ohne es auszusprechen, erkennt Téa Obreht in dieser Mentalität wohl auch den Grund für den Krieg, dessen Wunden auf dem Balkan noch längst nicht verheilt sind. So wie sie ihre Landsleute und ihre Geschichte sieht, ist davon auch in nächster Zukunft nicht auszugehen: «Solange ein Kampf ein bestimmtes Ziel hat – die Befreiung von etwas, das Engagement für Unschuldige –, besteht immer Hoffnung auf ein Ende. Wenn er jedoch nach Auflösung trachtet – und unsere Namen betrifft, die Orte, in denen wir verankert sind, die Bindung unserer Namen an Wahrzeichen oder Ereignis –, dann bleibt nichts als Hass und die lange, träge Prozession von Menschen, die Generation für Generation von ihm zehren. Dann ist der Kampf endlos, kehrt immer wieder, wie Wellen, und behält die Kraft, jene, die auf sein Ende hoffen, böse zu überraschen.»
Bestes Zitat: „Er richtete sich auf, schob den Stuhl vom Tisch weg und rieb sich die Knie. ‚Wenn Erwachsene sterben, haben sie Angst’, sagte er. ‚Sie nehmen alles von dir, was sie kriegen können, und als Arzt ist es deine Aufgabe, es ihnen zu geben, sie zu trösten, ihnen die Hand zu halten. Aber Kinder sterben so, wie sie gelebt haben – voller Hoffnung. Sie wissen nicht, was geschieht, also erwarten sie auch nichts, sie bitten dich nicht, ihre Hand zu halten – und am Ende wünschst du dir, sie würden deine halten. Bei Kindern bist da auf dich allein gestellt. Verstehst du?’“
Eine leicht gekürzte Version dieser Kritik gibt es auch bei news.de.