Autor | Thomas Mann | |
Titel | Buddenbrooks | |
Verlag | S. Fischer | |
Erscheinungsjahr | 1901 | |
Bewertung |
Warum sollte man im Jahr 2017 noch die Buddenbrooks lesen? Ein Buch, das 1901 erschienen ist und dessen Handlung noch deutlich weiter zurückliegt, nämlich in den Jahren von 1835 bis 1877 spielt? Ein Buch, in dem Thomas Mann also insgesamt 42 Jahre Familiengeschichte erzählt, rund um Thomas Buddenbrook, der zu Beginn dieses Romans ein Knabe in einer steinreichen, hochangesehenen Kaufmannsdynastie ist, und am Ende elend als derjenige stirbt, der diese ruhmreiche Familiengeschichte zu einem unrühmlichen Ende geführt hat. Drei sehr gute Gründe fallen mir als Antwort auf diese Frage ein.
Der erste Grund ist heute vielleicht noch spektakulärer als für die Zeitgenossen: Buddenbrooks ist ein sehr großes Werk eines sehr jungen Menschen. Thomas Mann war 22, als er mit der Arbeit daran begann. Als sein Debütroman veröffentlicht wurde, war er 26 Jahre alt. In diesem Alter gilt es heute, auch für Schriftsteller, als normal, sich wie ein Teenager aufzuführen, zwischen Buchdeckeln maximal die eigene Jugend und Eitelkeit zu feiern und den Blick vor allem nach vorne auf die Möglichkeiten zu richten, die das Leben bietet, statt zurück auf die eigenen Vorfahren. Das macht noch ein bisschen erstaunlicher, wie viel Horizont, Geist und nicht zuletzt Disziplin der Autor in diese mehr als 750 Seiten steckte. Seine Motivation ist unschwer zu erraten: Die Buddenbrooks sind inspiriert von Thomas Manns eigener Familiengeschichte und verfasst wohl auch als Versuch, deren Prestigeverlust in der Heimatstadt Lübeck durch ein literarisches Meisterwerk wettzumachen. Der Plan ging auf: Während der eine Thomas für die Buddenbrooks zum Bankrotteur seiner Familie wurde, schaffte der andere Thomas für die Manns mit diesem Werk, wirtschaftlich und gesellschaftlich gesprochen, den Turnaround, zumindest vorübergehend.
Die zentralen Werte des Romans sind Pflicht, Tradition und ein strenges bürgerliches Wertgefüge; die ewige Wiederkehr ist ein wichtiges Motiv. So wie sich fast alle Mitglieder der Familie, am deutlichsten wahrscheinlich Thomas Buddenbrooks‘ Schwester Tony, als Glied einer langen Kette verdienstvoller Männer und Frauen zu sehen verpflichtet fühlen, so sieht sich wohl auch Thomas Mann trotz seiner Jugend in der Ahnenreihe der großen deutschen Schriftsteller und als Vertreter jahrhundertealter, ehrwürdiger deutscher Kultur.
Das von ihm geschaffene Ensemble, das er mit einem unnachahmlichen erzählerischen Ton in den Niedergang schickt, ist der zweite gute Grund für die Lektüre. Am Beginn steht eine häusliche Szene, die nicht nur perfekt das Milieu hanseatischen Großbürgertums einfängt, in dem wir uns bewegen, sondern vor allem auch das Selbstverständnis zeigt, das hier herrscht. Viel später im Roman wird dieses Selbstverständnis noch einmal ausformuliert. Als Tugend mit einer beinahe erotischen Kraft wird da von Thomas Buddenbrook der stille Idealismus geschildert, „süßer, beglückender, befriedigender als eine heimliche Liebe, irgend ein abstraktes Gut, einen alten Namen, ein Firmenschild zu hegen, zu pflegen zu verteidigen, zu Ehren und Macht und Glanz zu bringen“.
Auf erstaunlich wenigen Seiten schafft es Thomas Mann, den gesamten Familienstammbaum der Buddenbrooks nachzuzeichnen, um dann in der Gegenwart seiner Figuren anzukommen. Er selbst behauptete zwar gerne, dieser Roman sei „geworden, nicht gemacht, gewachsen, nicht geformt“, doch wie meisterhaft sein Werk konstruiert ist, wird überdeutlich. Der Erzähler scheint manchmal aus der Perspektive, zumindest aber im Geiste von Thomas Buddenbrook zu sprechen, unverkennbar steckt in ihm aber auch eine Lust aufs Schwadronieren und Reflektieren, die eher zu seinem unkonventionellen Bruder Christian passt. Auch dadurch gelingt es, in diesen Familien-, Gesellschafts- und Wirtschaftsroman auch reichlich Spitzen, Lästern, Karikaturen, Tratsch und Menschlich-Allzumenschliches zu integrieren, das die Lektüre durchaus unterhaltsam macht. Dazu passt auch die Tatsache, dass sich in der Familie Buddenbrook eine erstaunliche Geringschätzung der akademischen Welt findet oder diese zumindest durch deren Einfluss auf den Plot impliziert wird: Juristen sind Trickser, Theologen sind Lügner und Ärzte sind Scharlatane, die eher zum Siechtum als zum Erblühen der Familie beitragen – eine wunderbare Ironie in einem Roman, der heute zur Pflichtlektüre des Bildungsbürgertums gehört.
In der Tat bietet Buddenbrooks nichts weniger als Spannung trotz der „ruhigen und natürlichen Folge dieser Begebenheiten“, die schon Rainer Maria Rilke in einer der ersten Rezensionen des Romans lobte. Man erkennt als Leser die Hyperbel und den Höhepunkt, vermag aber nicht zu sagen, durch welche Elemente und welche Entscheidungen der Niedergang der Familie beginnt und dann die unaufhaltsame Zersetzung ihren Lauf nimmt. Ist es Eitelkeit? Hybris? Eine Neigung zu Schönheit, Kunst und Zerstreuung, die den Tatendrang des wackeren Kaufmanns bremst? Ängstliche Verzagtheit? Oder die Unfähigkeit, neue Zeiten zu erkennen und neue Rahmenbedingungen zu akzeptieren?
Die Frage führt zum dritten und entscheidenden Argument für die auch heute noch im höchsten Maße reizvollen und erhellenden Erkenntnisse, die sich aus den Buddenbrooks ziehen lassen: Der Roman reflektiert den Konflikt zwischen Person und Gesellschaft, zwischen Entscheidung und Schicksal, und er ist darin unbedingt aktuell. Thomas Mann seziert die Bedingungen bürgerlicher Existenz, ihre Widersprüchlichkeiten, Verfehlungen, Lebenslügen und Zwänge. Der Urglaube an Fortschritt, Optimierung und Wachstum, der den Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso prägte wie unsere Zeit, wird von ihm nicht nur gemaßregelt, sondern als tragisches, existenzielles Missverständnis bloßgestellt.
Diese Patrizierfamilie steht einerseits für die uralte Idee vom Adel der Geburt, nicht des Verdienstes, obwohl die vergleichsweise moderne Fixierung auf Vermögen und ökonomischen Erfolg so offenkundig ist. Die großen Stürme der Zeit, von Napoleon bis zur Reichseinigung, sind durchaus präsent in diesem Roman, aber sie wehen bloß als ein laues Lüftchen an die Mauern dieser Stadt und sind schon gar nicht in der Lage, den Stammbaum dieser Familie zu entwurzeln. Andererseits repräsentieren die Buddenbrooks ein protestantisches Ethos, das ebenso viel Fleiß wie Selbstdisziplin verlangt. Darin liegt der Schlüssel zur Tragik der Romanfiguren: Sie fragen sich permanent, was ökonomisch geboten oder standesgemäß ist, was den Erfolg der Firma und den sozialen Status der Familie mehrt. Die eigenen Träume, Sehnsüchte und sogar Talente müssen dahinter zurück stehen.
Thomas ist dafür das deutlichste Beispiel: Sein Wesen, seine Träume und seine Liebe zu einer einfachen Blumenverkäuferin sind ganz anders als sein Handeln, sein Auftrag, sein Prestige. Die Häuser, die er als die repräsentative Entsprechung seines Reichtums kauft oder baut und die in den Buddenbrooks eine sehr prominente Rolle einnehmen, sind insofern eine sehr treffende Metapher, denn er führt letztlich ein Leben als Fassade. „Die Haltung, das Gleichgewicht ist für mich meinerseits die Hauptsache“, sagt er an einer Stelle zu Tony, bezeichnenderweise mit dem Hinweis darauf, dass sich Kaufleute darin von Dichtern und anderen schwärmerischen Geistern unterschieden.
Tradition, Stand und Familie gehen bei den Buddenbrooks stets über persönliches Verdienst, erst recht über private Interessen, wie in dieser typisch spöttelnden Charakterisierung von Tony deutlich wird: „Ihr ausgeprägter Familiensinn entfremdete sie nahezu den Begriffen des freien Willens und der Selbstbestimmung und machte, dass sie mit einem beinahe fatalistischen Gleichmut ihre Eigenschaften feststellte und anerkannte… ohne Unterschied und ohne den Versuch, sie zu korrigieren. Sie war, ohne es selbst zu wissen, der Meinung, dass jede Eigenschaft, gleichviel welcher Art, ein Erbstück, eine Familientradition bedeute und folglich etwas Ehrwürdiges sei.“ Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering ging deshalb so weit, die Figuren in Buddenbrooks als „autonome willensfreie Wesen“ zu betrachten.
Dieses Ausmaß an Pflichtgefühl wird natürlich spätestens zur kaum noch zu tragenden Last, als die Geschäfte nicht mehr gut laufen. „Was ist der Erfolg? Eine geheime, unbeschreibliche Kraft, Umsichtigkeit, Bereitschaft, das Bewusstsein, einen Druck auf die Bewegungen des Lebens um mich herum durch mein bloßes Vorhandensein auszuüben… (…) Glück und Erfolg sind in uns. Wir müssen sie halten: fest, tief. Sowie hier drinnen etwas nachzulassen beginnt, sich abzuspannen, müde zu werden, alsbald wird alles frei um uns her, widerstrebt, rebelliert, entzieht sich unserem Einfluss“, legt Thomas an einer Stelle dar. Natürlich weiß er, dass dies auch die ultimative persönliche Verantwortung für jede Schlappe bedeutet, erst recht für den möglichen Ruin der Familie, den er in diesem Moment bereits ahnt.
Das ist die wunderbare Botschaft dieses Romans: Der Glaube an die Allmacht des Schicksals führt ebenso in die Irre wie der Glaube, es ließe sich durch unser Verhalten manipulieren. Es bringt nichts, sich bis zur Selbstverleugnung im Dienste einer vermeintlich höheren Sache zu disziplinieren. Und schon gar nicht führt es zum Erfolg, selbst im denkbar engsten Korsett von Konventionen, Erwartungen und Pflichten, das eigene Menschsein und die eigene Individualität zu ignorieren.
Bestes Zitat: „Ende und Auflösung? Dreimal erbarmungswürdig Jeder, der diese nichtigen Begriffe als Schrecknisse empfand! Was würde enden und was sich auflösen? Dieser sein Leib… Diese seine Persönlichkeit und Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und hassenswerte Hindernis, etwas Anderes und Besseres zu sein!“