Autor | Ulrike Almut Sandig | |
Titel | Buch gegen das Verschwinden | |
Verlag | Schöffling | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
In der aktuellen Diskussion um Sterbehilfe hat man schon etliche erwartbare (Franz Müntefering. Kardinal Marx, Hermann Gröhe) und einige unerwartete Stimmen vernommen. Wenn ich mit meiner Interpretation nicht ganz falsch liege, gibt es jetzt noch eine weitere Wortmeldung, sicherlich die poetischste in der bisherigen Debatte. Nämlich von Ulrike Almut Sandig. Die Schriftstellerin, Jahrgang 1979 und in Leipzig und Berlin lebend, hat in ihrem Buch gegen das Verschwinden gerade sechs neue Erzählungen (pardon: Geschichten, so der korrekte Untertitel) versammelt.
Eine der Geschichten heißt Weit unter uns die flüssigen Felsen. Sie handelt von einem Mann, der nach 50 Jahren Ehe zum Witwer wird. Er versucht, sich in seinem neuen Leben einzurichten, von dem er hofft, dass es noch eine Zukunft bieten könnte. Als ihm allmählich alles entgleitet, kann man das zunächst noch für eine Folgeerscheinung des traumatischen Verlusts halten, den der Tod seiner Frau bedeutet. Doch nach und nach wird eine andere Ursache deutlich und man erkennt: Das Thema Demenz wird hier mit so viel Würde, Romantik und Erhabenheit behandelt, wie es selten gelungen ist.
Das Thema ist typisch für das Buch gegen das Verschwinden. In Die blauen Augen deiner Mutter berichtet die 28-jährige Hauptfigur als Reporterin von den Protesten am Taksim-Platz in Istanbul und bereitet sich zugleich vor auf ein Gespräch mit der Mutter, um ihr ein lange verheimlichtes Geständnis zu machen, das da lautet: Ich bin zwar als Mädchen geboren, aber jetzt bin ich ein Mann.
Auf der Fahrt ins Engadin sind in Tamangur eine 30-jährige Deutsche und ein 60-jähriger Schweizer, um ein paar ganz besondere Naturfotos zu schießen. Als sie eine gefährliche Tour immer höher hinaus durch einen Schneesturm unternehmen, trübt die Kälte die Sinne so sehr, dass sich die Frage stellt, was noch real ist und was bloß eingebildet. Über unsere Anwesenheit spielt im Jahr 2117, als eine Großmutter mit ihrer Enkelin eine Urlaubstour unternimmt, um den Venustransfer zu beobachten, und dabei Nachrichten an ihren Sohn in ein Diktiergerät spricht.
Personen verschwinden in diesen Geschichten, Beziehungen, Weltanschauungen und politische Systeme. Sandig stellt dieser Auflösung die Kraft des Erzählens gegenüber. Sie betont zum einen das Dokumentarische, Archivarische in der Literatur. Was zwischen Buchdeckeln steht, das bleibt. Zum anderen spielt sie mit der Flexibilität des Erzählens, das Geschichte eben nicht als ein gut zu verwahrendes Faksimile der Realität begreift, sondern als Material, mit dem man arbeiten kann. Was zwischen die Buchdeckel kommt, ist nicht identisch mit dem Geschehenen und auch nicht in Stein gemeißelt.
Am deutlichsten wird das in Gegen das Verschwinden gleich zu Beginn des Buches. Sandig berichtet von einer werdenden Patchwork-Familie im Ostseeurlaub, aber sie wählt dazu eine höchst unzuverlässige Erzählerin. Überall ist hier eine Distanz zum Erzählten, immer ist da ein Vorbehalt und die mal unausgesprochene, mal deutlich artikulierte Warnung: Alles könnte auch ganz anders sein, in diesen Geschichten sowieso, aber auch im Leben. „Wenn wir schon im wirklichen Leben nichts wiedergutmachen können, warum dann nicht in den Geschichten, die wir uns später erzählen?“, fragt sie und liefert somit zugleich das Geständnis, die Ereignisse nach eigenem Gusto geformt zu haben.
Auch in der Geburtstagsgeschichte gibt es so einen Fall. Darin steht ein Mann im Mittelpunkt, der viel zu jung ist, um gebrechlich zu sein, an dem aber eine neurologische Krankheit zehrt, die ihn immer mehr einschränkt, bis sein einziges Fenster zur Welt nur noch die Mails seines Bruders sind, der als Sportreporter durch die Welt jettet und nichts vom Siechtum des zuhause Gebliebenen ahnt. Darin greift Ulrike Almut Sandig die Idee von der Plastizität des Erzählens wieder auf: „Es gibt Dinge von so unwahrscheinlicher Natur, dass die Leute sie einfach nicht glauben. Das stimmt nicht, sagen sie dann, als wären sie dabei gewesen. Aber sie waren nicht dabei und können es nicht wissen. Schreibt man diese unwahrscheinlichen Dinge aber auf und nennt sie eine Geschichte, dann glauben die Leute alles.“
Unverkennbar steckt in dieser Idee die wichtigste Aussage im Buch gegen das Verschwinden – und ein nicht zu unterschätzender Trost: Tod, Verlust und Vergänglichkeit machen nicht Halt vor den Dingen und Menschen, die uns am Herzen liegen. Aber solange wir von ihnen erzählen, sind sie nicht verschwunden. Und indem wir von ihnen erzählen, bekommt das Verschwinden sogar einen Sinn.
Bestes Zitat: „An diesem Tag und in dieser Minute findet sie plötzlich, dass sie sich diese Geschichte immer wieder anhören könnte und immer wieder in der jeweils aktuellen Version, und jeder Version würde sie Glauben schenken, wohl wissend, dass wir, jede Einzelne von uns, die Erzählerinnen unserer eigenen Geschichten sind und dass es nicht darauf ankommt, was in Wirklichkeit passiert ist, solange wir eine Version haben, die uns das Leben und alle, die darin verschwinden, erträglicher macht.“