Autor | Uwe Timm | |
Titel | Vogel, friss die Feige nicht | |
Verlag | KiWi | |
Erscheinungsjahr | 1989 | |
Bewertung |
Das beste an diesen Römischen Aufzeichnungen, wie der Untertitel des Bändchens lautet: Uwe Timm will schon lange nach Rom, obwohl es ein Klischee ist, sich als deutscher Literat dort einzuquartieren, und obwohl ihm viele davon abraten. Aber als er dann tatsächlich aufbricht, als er die Ewige Stadt erreicht und dann kennen lernt, ist er von einer ständigen Unsicherheit geplagt, ob das die richtige Entscheidung war.
Aus diesem Zweifel entsteht der Reiz von Vogel, friss die Feige nicht. Denn er wirkt wie ein Turbo für die Wahrnehmung des gebürtigen Hamburgers, der 1981 aus München nach Rom gekommen war und dort zwei Jahre lang blieb. Vom Aufbruch über das Einleben bis zum Heimischwerden – immer wieder saugt Uwe Timm das Geschehen um sich herum förmlich ein. Es geht ihm dabei weniger um das Sprechen, noch weniger ums Verstehen. Seine kleinen Texte sind getragen von einer enormen Sinnlichkeit. Er hört, er riecht, er fühlt sich im wahrsten Sinne des Wortes in diese Stadt hinein – wunderbar kommt das in seiner Betrachtung über den Tastsinn zum Ausdruck, die ihm im Angesicht der Statue von Daphne und Apollo in den Sinn kommt.
Anderswo wird über die „die Zunge pelzende Süßigkeit“ von Feigen räsoniert, es gibt einen herrlich ironischen Versuch über eine Ästhetik des Spaghetti-Essens, eine sehr amüsante Episode über die Schwierigkeit, als Ausländer in Italien ein Konto zu eröffnen, und am Ende von Vogel, friss die Feige nicht noch drei längere Abhandlungen über den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, die Bedeutung der Bilder von Caravaggio und den Schriftsteller Heinrich Kipphardt.
Nicht nur deshalb hat das Büchlein aber einen Wert, der über den bloßen Charakter eines Reisetagebuchs hinaus geht. Während seiner Zeit in Rom wird Uwe Timm offensichtlich auch immer klarer, wie fremd ihm zunächst diese Stadt war, wie fremd ihm dann aber nach und nach auch die Daheimgebliebenen, sogar Freunde erscheinen. So wird der Ausflug zu einer Standortbestimmung – in literarischer, aber auch persönlicher Hinsicht.
Bestes Zitat: „Kunst ist die Erinnerung an das, was einmal erlebt und erlitten worden ist und gegen seine Flüchtigkeit im Bild festgehalten wurde (Entsprechendes gilt für die Sprache in der Literatur, für den Klang in der Musik). Sie gibt Kunde – auch für künftige Generationen – von dem mühevollen Weg, den das Bewusstsein genommen hat, egal, ob man diesen als Fortschritt oder Stagnation und Rückschritt deutet. Die Kunst hebt die Zeit – paradoxerweise – sinnlich auf. Sie ist Selbstvergewisserung des kollektiven Gedächtnisses, dessen, was anders war, als auch dessen, was bleibt, die Frage: Warum leben wir, warum leiden wir? Eine Frage, die nichts Quietistisches haben muss, sondern Protest, Auflehnung, Empörung bedeuten kann. Der paradoxe Wunsch nach Leben und nach Dauer zugleich.“