Autor | Will Self | |
Titel | Shark | |
Verlag | Hoffmann und Campe | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung | ohne Wertung |
Es ist wohl wie in einer gescheiterten Beziehung. Den schwarzen Peter schiebt man dem Gegenüber zu, weil das viel bequemer ist als selbst schuld zu sein. Bestimmt liegt es also an mir, dass es mit Shark einfach nicht geklappt hat. Ich habe, was ich sonst nie tue, dieses Buch nicht zu Ende gelesen. Nach rund 100 Seiten hatte ich nicht mehr die Kraft, Neugier und Begeisterungsfähigkeit zum Weitermachen. Dabei habe ich es versucht. Mehrfach, intensiv, sogar systematisch. Aber es ging einfach nicht. Und ich bin bereit, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Denn wenn ich ehrlich zu mir selbst bin (wir alle wissen, wie schwierig das ist), kenne ich sogar die Gründe dafür. Es sind fünf.
Erstens: Ich bin Romantiker.
Es ist schwer geworden im Informationszeitalter, aber ich genieße es nach wie vor, Kunstwerke möglichst unvoreingenommen zu rezipieren. Wenn ich ins Kino gehe, schaue ich mir den Trailer vorher nicht an. Wenn ich Musik höre, ignoriere ich die schon längst veröffentlichten Plattenkritiken. Und wenn ich ein Buch aufschlage, beginne ich auf Seite 1. Ich lese keinen Klappentext, keine Infos zu Autor und Übersetzer. Ein Roman sollte aus sich selbst heraus funktionieren. Er soll es mir ermöglichen, selbst zu erschließen, wer die wichtigen Figuren und was die wichtigen Konflikte sind – bis ich mir daraus mein Urteil bilden kann. Er soll nicht auf Paratexte angewiesen sein, sondern seine eigene Gebrauchsanleitung mitliefern.
Bei Shark funktioniert das allerdings nicht. Auch nach mehr als 80 der insgesamt gut 500 Seiten hat man als Leser noch keine Ahnung, worum es in dem Buch gehen könnte, wer der Erzähler ist, wie die erwähnten Figuren zueinander stehen oder an welchem Ort und in welcher Epoche wir uns befinden. Dennoch bei der Stange zu bleiben, ist angesichts des Stils von Will Self und der Struktur des Romans (siehe unten) ziemlich schwierig. Erst, als ich vor diesem Buch kapituliert habe und dann doch einen Blick auf den Klappentext warf, wurden die wichtigsten Koordinaten klar: Es geht um eine Kommune in London im Mai 1970, die von einem Psychiater geleitet wird (die Figur des Dr. Zack Busner taucht bereits in einem früheren Roman von Will Self auf) und allerlei traumatisierte Mitglieder hat, die sich auf einen gemeinsamen LSD-Trip begeben…
Zweitens: Ich bin ungeduldig.
Man kann so eine „Tour de Force der Moderne“ (Verlagsinfo) zwar auf einer formalen Ebene reizvoll finden, und zweifelsohne hat man in diesem Roman schnell die Gewissheit: So etwas habe ich noch nie gelesen. Trotzdem leben wir nun einmal in einer Aufmerksamkeitsökonomie. Wenn ich einem Buch meine Zeit widme, dann soll es mir etwas zurückgeben. Nicht sofort und nicht auf Knopfdruck – Literatur ist schließlich keine Dienstleistung. Aber auch bei einem sperrigen Beginn (Der Name der Rose ist ein gutes Beispiel dafür) oder im noch so postmodernen Koordinatensystem (David Foster Wallace bekam das stets mühelos hin) sollte in den ersten paar Dutzend Seiten doch zumindest so etwas wie ein Versprechen schlummern: Bleib dran, es wird sich lohnen!
Genau dieses Versprechen kann oder möchte Will Self hier allerdings nicht geben. Stattdessen gerät man in einen Mahlstrom, aus dem es offensichtlich auch im weiteren Verlauf des Buches kein Entrinnen mehr geben wird. „Shark ist eine bild- und sprachgewaltige Verbeugung vor den endlosen Erzählbewegungen der Moderne. Einzelne Erzählsplitter verdichten sich zu einem von Bildern strotzenden, endlosen Bewusstseinsstrom, der von den unterschiedlichsten Figuren gespeist wird“, hat Hans von Trotha im Deutschlandradio attestiert. Um das zu genießen, braucht man hier aber die Fähigkeit, Selbstverständlichkeiten eines Lektürepakts (etwa die Annahme, man wisse nach etwa 100 Seiten zumindest ungefähr, was das Thema des Romans sein soll) sehr weit hintanzustellen.
Drittens: Ich bin bequem.
Natürlich wünschen wir uns alle ein Leben, das aus nichts als Schaukelstühlen, sonnigen Terrassen, Rotwein und eifriger Lektüre bewegender Literatur besteht. Aber die meisten von uns, ich schließe mich da ein, haben dieses Leben nicht. Sie lesen abends im Bett, am Wochenende nach dem Abendessen, morgens auf dem Klo oder (wie ich meistens) beim Bahnfahren. Sie lesen vielleicht 200 Seiten am Stück, ein paar Kapitel oder auch nur zwei Absätze, legen ein Buch dann wieder zur Seite, um die Lektüre irgendwann an dieser Stelle fortzusetzen. Will Self macht es solchen Lesern nicht einfach: Shark enthält keine Kapitel, nicht einmal Absätze. Der gesamte Roman ist ein einziger Fluss von Gedanken, der gerade von dieser Kontinuität, vom Nicht-Unterbrochen-Sein lebt.
Das mag originell sein, erschwert aber ungemein die Lektüre, wenn man nun einmal auf ein häppchenweises Lesen zurückgreifen muss. „Ein fesselndes, faszinierendes und wunderbar verstörendes Buch. Lassen Sie sich darauf ein, und es wird Sie verschlingen“, hat der Daily Telegraph über Shark geschrieben. Man kann es auch so sagen: Verschlingen ist die einzig praktikable Möglichkeit des Konsums für dieses Buch.
Viertens: Ich bin leicht zu verführen.
Es sind Lobeshymnen wie das Zitat oben, die mich dazu gebracht haben, zu diesem Roman zu greifen. Denn auch wenn ich Klappentexte etc. unmittelbar vor der Lektüre meide, beruht meine Auswahl, welche Bücher ich lesen und rezensieren möchte, natürlich auf Informationen. Wahrscheinlich bin ich einfach auf die höchst attraktiven Attribute im Verlagsprogramm hereingefallen. Ein Londoner! Ein Nonkonformist! Die Vorgänger Leberknödel und Regenschirm von der Kritik gefeiert, Letzterer sogar für den Man Booker Prize nominiert! „Mit dem Briten Will Self lernt man vielleicht, den Irrsinn der Welt zu begreifen“, versprechen gar die Oberösterreichische Nachrichten – und wer wollte das nicht? Aber so verführerisch all das klingt, so anstrengend ist dann die Beziehung zu diesem Roman. Und im Hinterkopf lauert dann schnell der Gedanke, dass anderswo ja auch noch jede Menge tolle Bücher darauf warten, gelesen zu werden, und dass sie vielleicht mehr Freude, Erleuchtung und Glück versprechen für die Zeit, die man ihnen widmet.
Fünftens: Ich will geliebt werden, zumindest geachtet.
In Summe wirkt Shark damit leider wie ein Buch, das akademisch reizvoll ist, unverkennbar mutig und, wenn man über Seite 100 hinauskommt, womöglich sogar bewegend, erschütternd oder witzig. Aber selbst für Leser wie mich, die durchaus Lust auf Innovationen und Experimente haben, ist es ein eitles, eingebildetes, egozentrisches Buch. Die fehlenden Absätze, das Voraussetzungsreiche, die absichtlich gestiftete Verwirrung – all das macht zweifelsohne einen Teil des künstlerischen Werts dieses Romans aus, ist aber auch Ausdruck einer äußerst unsympathischen Arroganz gegenüber dem Leser.