Autor | Wolfgang Herrndorf | |
Titel | Bilder deiner großen Liebe | |
Verlag | Rowohlt | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
„Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“ Diese unmissverständlichen Sätze schrieb Wolfgang Herrndorf im Juli 2013 in sein Testament. Er war zu diesem Zeitpunkt einer der namhaftesten deutschen Schriftsteller. Sein Roman Tschick hatte sich eine Million Mal verkauft, die Theater-Adaption des Stoffs um zwei jugendliche Ausreißer ist derzeit das erfolgreichste deutsche Bühnenstück überhaupt (das bedeutet: erfolgreicher als Goethe, Schiller und Brecht). Doch während die Verkaufszahlen in die Höhe kletterten, kämpfte der Autor mit einem Hirntumor, der sich als unheilbar erwies. Sieben Wochen, nachdem er in seinem Testament verfügt hatte, dass nichts aus seinem Nachlass veröffentlicht werden sollte, erschoss er sich am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals.
Nun gibt es trotzdem ein neues Buch von Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe. Wer Leichenfledderei wittert, kann beruhigt sein: Herrndorf hatte schon früh mit der Idee gespielt, diesen Stoff posthum unters Volk zu bringen. „Ich arbeite, ohne voranzukommen (…). Ich schreibe seit Wochen an genau derselben Stelle (…) obgleich ich nur versuche, alles so hinzupfuschen, dass irgend jemand es fertigstellen könnte“, merkte er beispielsweise einmal in Arbeit und Struktur an, dem Blog, der zum Tagebuch seines Sterbens wurde. Am Ende, wenige Tage vor seinem Tod, erklärte er sich damit einverstanden, dass Marcus Gärtner und Kathrin Passig das Material vollenden und veröffentlichen. Den Titel des unvollendeten Romans bestimmte er noch selbst.
Das Fragmentarische merkt man Bilder deiner großen Liebe durchaus an, doch in keinem Moment ist das ein Manko für dieses ergreifende Buch. Es gibt Sprünge, Lücken und Widersprüche in der Handlung, doch sie sind letztlich reizvoll, sogar zwangsläufig bei einer Ich-Erzählerin wie dieser: Bilder deiner großen Liebe ist die Geschichte eines Mädchens, das zu Beginn des Buches aus der Psychiatrie abhaut und sich dann auf Wanderschaft begibt, ohne Begleitung, ohne Essen, ohne Schuhe, ohne Landkarte. Dass es sich dabei um die 14-jährige Isa handelt, die Wolfgang Herrndorf schon in Tschick hat auftreten lassen und die er hier mit der Hauptrolle versieht, weiß man auf den ersten Seiten noch nicht, doch das passt zu dieser atemlosen, fantastischen Hauptfigur: Sie ist eine maximal unzuverlässige Erzählerin.
Was sie durchschreitet, ist unverkennbar Deutschland: Provinzdörfer mit Fachwerkhäusern, Billigsupermärkte, Autobahnzubringer, Tankstellen und Wald. Immer wieder Wald. Aber die Begegnungen, von denen sie berichtet, wirken eher wie Episoden und Traumsequenzen als wie ein geschlossener Plot. So bekommt diese Coming-of-Age-Geschichte gelegentlich einen fast märchenhaften Ton, Isa erscheint wie Aschenputtel, wie die mysteriöse Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahre, wie eine höchst lebendige und feinfühlige Variante des klassischen Vagabunden-Topos. Sie kennt die Natur und deren Routinen viel besser als die Menschen und deren Gemeinheiten. „In einem Moment denkt man, man hat es. Dann denkt man wieder, man hat es nicht“, umschreibt sie an einer Stelle ihre Verlorenheit in der Welt. „Und wenn man diesen Gedanken zu Ende denken will, dreht er sich unendlich im Kreis, und wenn man aus dieser unendlichen Schleife nicht mehr rauskommt, ist man wieder verrückt. Weil man etwas verstanden hat.“
Mit derlei Philosophie, die hier auch aus dem Munde einer 14-Jährigen glaubwürdig und eindringlich klingt, thematisiert der Roman hoch poetisch die Suche nach Vertrauen, Freundschaft und Harmonie. Und er kreist immer wieder um das Problem der erwachenden Sexualität. Sigmund Freuds These, dass alle psychischen Probleme ihre Ursache in der Sexualität hätten, trifft auf Isa – wenn auch in anderer Weise als von Freud gemeint – eindeutig zu: Ihre Skepsis gegenüber der Welt, ihre Verwirrung und ihr Ausscheren aus der für sie vorgesehenen Biografie entstehen zu einem guten Teil daraus, dass sie als 14-Jährige von der Welt als sexuelles Wesen betrachtet wird, sich aber selbst überhaupt nicht so wahrnimmt. Sexualität ist für sie Das Große Fremde, sie weiß um die Macht und die Möglichkeiten zur Manipulation, die darin stecken, aber nicht, dass auch Lust und Erfüllung darin stecken können.
Isa gewinnt dadurch eine fast heilige Unschuld, die sehr reizvoll mit der authentisch-schnoddriggen Jugendsprache kontrastiert, die es wie schon in Tschick auch hier gibt. Sie schwebt über den Dingen, mit einer übersteigerten Wahrnehmung, ebenso des Ich wie der Welt. Es ist letztlich genau diese Sensibilität, die ihr als psychische Störung ausgelegt wird. Dabei will sie keine Außenseiterin sein, sie ist eher eine Verstoßene als eine Rebellin – sie will lieber, dass alle anderen anders werden als sie jetzt sind, besser, ein bisschen mehr Isa.
Wolfgang Herrndorf hat damit eine unvergessliche Hauptfigur geschaffen, und er hat in Bilder deiner großen Liebe zudem durchaus auch Humor zu bieten. Nicht zuletzt beeindruckt dieses Buch mit einigen Passagen, in denen dem Leser angesichts der Entstehungsgeschichte ein Schauer über den Rücken fahren muss, wie die Szene, in der Isa den Abschiedsbrief eines Selbstmörders findet – ausgerechnet am Ufer eines Kanals.
Bestes Zitat: „Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich. Und das liegt nicht daran, dass es länger dauert, das Unglück. Es ist einfach so.“