Dÿse Widergeburt

Dÿse – „Widergeburt“

Künstler*in Dÿse

Dÿse Widergeburt Review Kritik
Zehn Gast-Bassisten haben Dÿse auf „Widergeburt“ dabei.
Album Widergeburt
Label Cargo
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung Foto oben: Cargo Records

Rätselhaftigkeit ist ein tolles Feature im Pop, und Künstler*innen wissen natürlich schon lange um die Effekte, die sich damit erzielen lassen. Sie denken sich ein Alter Ego namens Ziggy Stardust aus. Sie nennen sich Enigma und verbinden gregorianische Chöre mit dem Elektropop, den sie zuvor für ihre Ehefrau produziert haben. Sie verstecken ihre Gesichter hinter Helmen oder Pandamasken.

Nur wenige Acts verstehen es indes, in ihrer Musik selbst so rätselhaft zu sein wie Dÿse. Zumal das in Jena gegründete und mittlerweile in Berlin ansässige Duo es versteht, seinen kryptischen Ansatz mit viel Unmittelbarkeit und Wucht zu verbinden. Jarii van Gohl (Schlagzeug, Gesang) und Andrej Dietrich (Gitarre) wechseln textlich wie schon auf dem 2014er Vorgänger Das Nation zwischen Englisch und Deutsch und galoppieren auf Widergeburt klanglich durch alles, was sich mit ihren Instrumenten machen lässt, solange es nur laut genug ist.

Um „das Frequenzspektrum abzudecken“, wie Jarii van Gohl es nennt, haben sie sich diesmal noch personelle Verstärkung geholt. Bei jedem der zehn Lieder ist ein anderer befreundeter Musiker am Bass zu hören, diese Gäste sind sonst bei Bands wie Deichkind, Vizediktator, Kraftklub, Heaven Shall Burn oder Rammstein aktiv. Der prominenteste Name ist dabei in Alles ist meins nicht nur am Bass, sondern unverkennbar auch mit etwas Background-Gesang zu hören: Farin Urlaub. Das Lied wird ein Highlight der Platte, es ist heavy, komplex und vor allem einzigartig.

Die Radikalität dieser Band wird auch darin erkennbar, dass sich für den Sound von Widergeburt kaum Referenzen finden lassen. Das ebenso abgefahrene wie beeindruckende Hudabb könnte vielleicht herauskommen, wenn die Beatsteaks wirklich, wirklich schräge Drogen genommen hätten. Das Lied wird ein irres Erlebnis mit Elementen von Acappella bis Berserker und kurzen Zwischenstopps in der Musikhochschule und beim Stoner Rock. Höllenjunge könnte man vielleicht irgendwo zwischen Soundgarden und den White Stripes platzieren, der Songtitel ist im Text das einzige Wort auf Deutsch und macht die Wirkung sehr besonders, die darin enthaltene Selbstbezeichnung kauft man van Gohl ohnehin sofort ab, so verzweifelt und bedrohlich ist sein Gesang.

Auch Prärieauster wird heavy as fuck, der Song klingt wie eine Zündschnur, die sich auf eine Tankstelle zubewegt. Der Album-Abschluss Ich allein gegen euch alle hat mächtig Drive, Der Haifisch die Zähne kombiniert wild und brachial Dinge, die in unserer Wahrnehmung zusammengehören und dabei meist Gefahr und Zerstörung bedeuten. Bei den Texten gilt ansonsten weiterhin das bewährte Dÿse-Prinzip: Es geht immer auch darum, wie die Worte klingen – manchmal sogar mehr als darum, was sie bedeuten.

Dass die Ergebnisse oft gaga und manchmal gar lustig klingen, kann dabei niemals verschleiern, wie viel Substanz da ist, sogar politische. Ein gutes Beispiel dafür ist 8990, das in anderer Version schon auf der 2017er EP Bonzengulasch enthalten war und sich hier als akustische Entsprechung dessen erweist, was in der medialen Debatte derzeit endlich als Baseballschlägerjahre aufgearbeitet wird und sich in den Wendejahren in Ostdeutschland (hier als „eine Gesellschaftsruine“ bezeichnet) abgespielt hat. Auch der Opener Laicos Neidem bestätigt diese These. Im Zentrum des Stücks steht der Tank Man, dessen Bild bei den Protesten von Studierenden 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking um die Welt ging. Dÿse stellen hier offensichtlich die Frage, wie sich dieses Bild heute verbreitet und welche Wirkung es hervorgerufen hätte. Die sozialen Medien (rückwärts gesprochen), die dabei natürlich enorme Bedeutung hätten, werden von der Band offenbar nicht als ausschließlich beglückend empfunden, um es höflich zu formulieren.

Die Szene mit dem Tank Man passt dabei nicht zuletzt auch perfekt als Bild für die Ästhetik des Duos: Dÿse sind in ihrem Klang so bedrohlich wie der Panzer und so unerbittlich wie das vorangegangene Massaker. Zugleich sind sie so komplex und subversiv wie die damalige Protestbewegung gegen das kommunistische Regime in China und so mutig, rebellisch und schlichtweg bescheuert wie der Tank Man selbst es war.

Breakdance können Dÿse auch, zeigt das Video zu Laicos Neidem.

Dÿse bei Bandcamp.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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