Eivør – „Segl“

Künstler Eivør

Eivør Segl
Zwischen Märchen und Moderne wandelt Eivør auf „Segl“.
Album Segl
Label Eivør
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Wenn Menschen von sich behaupten können, sie hätten knapp zwei Drittel ihres Lebens mit Musik zugebracht, gehen sie normalerweise aufs Rentenalter zu. Eivør Pálsdóttir, die in einem Dorf auf den Färöer-Inseln aufgewachsen ist und jetzt in Kopenhagen lebt, ist erst 37 Jahre alt und kann diese Aussage trotzdem fast schon für sich in Anspruch nehmen. Mit 15 gründete sie noch zuhause auf den Färöern eine Trip-Hop-Band, mit 16 veröffentlichte sie ihr erstes Soloalbum, dann ging sie nach Island, um eine Ausbildung in klassischem Gesang in Reykjavik zu absolvieren, schließlich ging es weiter nach Dänemark, wo sie 2017 auch ihr letztes Album Slør aufnahm. Solch ein Werdegang erfordert eine Leidenschaft und bringt eine Erfahrung mit sich, die das morgen erscheinende Segl auf sehr angenehme Weise prägen.

Mánasegl eröffnet das Album, die Stimmeffekte darin lassen den ohnehin schon sehr besonderen Gesang von Eivør noch etwas geisterhafter klingen. Auch im kraftvollen Sleep On It kommt das anderweltliche Element dieser Musik wieder aus der Stimme, die hier an Roisin Murphy denken lässt. „Love is all that matters“ heißt die in Truth mit großer Eleganz (und großer Geste) besungene Wahrheit, Hands ist besonders organisch durch die Instrumentierung nur mit Klavier und nach und nach präsenter werdenden Streichern. Ganz ähnlich ist auch die Ästhetik von Patience, allerdings mit noch etwas mehr Drama und Romantik.

Nothing To Fear zeigt, dass Eivør auch kompakt (wenn auch nicht konventionell) und modern (wenn auch nicht beliebig) kann, der Song könnte zu Ellie Goulding passen. „Sometimes I overthink the most simple things“, singt sie in Let It Come, das durch die Stimme, die Elektronik und durchaus auch die Größe und Theatralik des Sounds die häufigen Vergleiche mit Björk rechtfertigt und in dem an sie selbst gerichteten Appell mündet, mehr Zutrauen in den Lauf der Dinge (und auch in sich selbst) zu haben. Vielleicht einen Effekt dieses „Overthinking“ kann man in Skyscrapers beobachten, denn dieses Stück zeigt, dass die Musik dieser Künstlerin auch schon einmal eigentümlich oder nervig werden kann, wenn ein Song eher auf Lautmalerei und Atmosphäre setzt statt auf Substanz.

Ein Höhepunkt ist hingegen Only Love, das lupenreinen TripHop bietet und auch von der Stimme profitiert, die der Isländer Ásgeir als Gast beisteuert. Auch The City ragt heraus. „I keep my feet steady on the ground“, singt Eivør darin, und das mag man kaum glauben bei einem Sound, der sowohl Tanzbarkeit anbietet als auch in die Wolken entschweben zu wollen scheint. Falls der Titel von Gullspunnin mit „Gold spinnen“ richtig übersetzt ist, wäre das durchaus passend bei dieser märchenhaften Atmosphäre, die sich auf dem Fundament eines erstaunlich kraftvollen Beats entwickelt. Vielleicht am besten zeigt Stirdur Saknur, wie die Musik auf Segl funktioniert und ihren Reiz entwickelt: Im Beginn, der beinahe acappella ist, kann man die Herkunft aus der Folklore erkennen, später werden elektronische Elemente eingesetzt, um einen Sound entstehen zu lassen, der ambitioniert, experimentell, hymnisch und ziemlich einzigartig ist.

Magisch und modern ist auch die Optik im Video zu Gullspunnin.

Website von Eivør.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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