Eine Frau wurde vergewaltigt. Jetzt muss sie mit ansehen, wie der Täter ohne Strafe davon kommt. Schlimmer noch: Die Kommissare Batic und Leitmayr müssen den Vergewaltiger vor dem Zorn der Menschen in seiner Umgebung beschützen, obwohl sie selbst überzeugt sind, dass er schuldig ist.
Die Polizisten geben eine Pressekonferenz, sagen vor Gericht aus, rennen dem flüchtenden Verdächtigen hinterher, schreien im Verhörzimmer wild durcheinander und zücken die Dienstwaffe, als sie ein Bootshaus stürmen wollen. Sie müssen sich die Vorwürfe von verzweifelten Angehörigen gefallen lassen und drohen ihrerseits an die Mühlen der Bürokratie zu verzweifeln.
So geschah es am Sonntag zur besten Sendezeit im Tatort im Ersten. Gestern Abend war schon wieder Krimizeit. Diesmal ist ein Kinderarzt in der Schweiz erstochen worden. Die Kommissare sind schnell am Tatort mitten im Wald, sie kommen anhand von Urinproben auf die Spur eines Verdächtigen, sie decken eine Selbstmordserie auf, später sind sie mit schusssicheren Westen in einer Werft im Einsatz.
Sieht so wirklich der Alltag der Ermittler in der Mordkommission aus? Peter Schnieders ist einer, der diese Frage so gut beantworten kann wie vielleicht niemand sonst. 43 Jahre lang hat er bei der Polizei gearbeitet, 36 davon bei der Kripo, zuletzt war er bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren Leiter der Mordkommission in Köln. «Aus meiner Sicht sind circa 50 Prozent der gezeigten Fernsehkrimis realistisch», sagt Schnieder. Er findet diesen Wert beachtlich, auch wenn die Bandbreite groß sei. Vor allem aus den skandinavischen Ländern kommen seiner Ansicht nach viele Fernsehkrimis, «die weitaus realistischer sind und über ein hohes Spannungspotenzial verfügen».
Die größten Unterschiede sieht Schnieders, der während seiner Karriere als Polizist nach eigener Schätzung mehr als 1000 Leichen zu Gesicht bekam, im Tempo. «In der Realität dauern die Ermittlungen in der Regel immer länger… wir schaffen das leider nicht in 90 Minuten wie die Fernsehkommissare», sagt er, räumt aber auch ein: «Für die Zuschauer wäre es sehr langweilig, den polizeilichen Ermittlungsalltag in breiter Form darzustellen.»
In seinem gerade erschienenen Buch Im Spiegel des Bösen erinnert sich Schnieders an zehn seiner schwierigsten Fälle, und zwischen Tat und Verurteilung des Täters kann da schon einmal ein ganzes Jahr vergehen. Auch Verhöre ziehen sich über Monate hin, auf die Ergebnisse von DNA-Analysen müssen die Ermittler oft ebenso lange warten, und die Hierarchien und Dienstpläne in den Polizeibehörden sorgen dafür, dass die Mordkommission längst nicht immer so schnell am Tatort ist wie das im Fernsehen gezeigt wird. Gelegentlich ist die Wirklichkeit auch deutlich blutiger als es das Fernsehen zu zeigen wagt – etwa wenn einem Opfer die Kehle durchgeschnitten wurde.
Das Bild vom Kommissar gerade zu rücken und die Unterschiede zu Tatort, Polizeiruf & Co. aufzuzeigen, war für Schnieders einer der Gründe, gemeinsam mit dem Journalisten Fred Sellin sein Buch zu schreiben. Es ging ihm darum, «die Seite eines Ermittlers zu beleuchten, der teilweise mit diesen ungeheuerlichen Taten konfrontiert wird, wie er denkt, fühlt und auch darzustellen, welche Auswirkungen es auf sein Privatleben haben kann. Darüber hinaus wollten wir kleinere Einblicke in die polizeiliche Arbeit an solchen Tatorten ermöglichen und nicht nur den Tätern, sondern eben auch den Opfern ein angemessenes Forum bieten.»
Obwohl er einen großen Teil seines Lebens dienstlich mit Verbrechen, Blut und Tod zu tun hatte, findet Schnieders übrigens durchaus Vergnügen an Krimis im TV, wie er news.de verrät. «Ich bin natürlich auch Privatmann und schaue mir gerne Fernsehkrimis an, auch wenn das für manche Leute merkwürdig klingen mag. Meine liebsten ‹Kollegen› sind die Münchener Kommissare Leitmayr und Batic», erzählt er. «Ich schalte aber auch ab, wenn die Geschichte völlig abstrus erscheint. Der vorletzte Tatort mit dem verdeckten türkischen Ermittler… das war für mich eindeutig überzogen.»