Autor | Fjodor M. Dostojewski | |
Titel | Helle Nächte | |
Verlag | Komet | |
Erscheinungsjahr | 1848 | |
Bewertung |
Der Ich-Erzähler in dieser Novelle, die auch unter dem Titel Weiße Nächte veröffentlicht wurde, ist keine allzu sympathische Figur. Der junge Mann, dessen Name nicht genannt wird, ist 26 Jahre alt, lebt seit acht Jahren in St. Petersburg und hat dort in all dieser Zeit keine Freunde finden können. Die wenigen Bekannten, auf die er verweisen kann, haben gerade die Stadt verlassen, weil es sich im Sommer auf dem Land besser aushalten lässt. Somit zieht er sich noch mehr in sich selbst zurück und in seine Kammer, in der Bücher und Hirngespinste seine einzigen Begleiter sind. „Tiefes Schweigen herrscht in dem kleinen Zimmer; Einsamkeit und Trägheit nähren die Einbildungskraft; sie ist schnell entflammt und gerät leicht ins Kochen (…). Und bald treibt die erhitzte Phantasie ihre Blasen, und das absichtslos, aufs Geratewohl ergriffene Buch entfällt der Hand unseres Träumers, noch ehe er bis zur dritten Seite gelangt ist. Seine Phantasie ist wieder erregt, neu gestimmt, und plötzlich öffnet sich ihm der Blick auf eine neue Welt und ein neues zauberhaftes Leben strahlt ihm daraus entgegen. Ein neuer Traum – ein neues Glück! Eine neue Dosis des scharfen, süßen Giftes!“, beschreibt Fjodor Dostojewski dieses Gemüt an einer Stelle.
Aus den Memoiren eines Träumers lautet der Untertitel der Originalausgabe, man könnte diesen Träumer indes auch als Soziopathen und Nerd betrachten, heute würde man vielleicht sogar sagen: als Incel. Denn sein Hang zum Fantasieren bekommt ein sehr konkretes Ziel, als er nachts bei einem Spaziergang am Ufer der Newa eine junge Frau trifft. Er kommt ins Gespräch mit der 17-jährigen Nastenka, der er aus einer Bedrängnis geholfen hat. Sie treffen sich an den folgenden drei Abenden immer am selben Ort und zur selben Zeit, sie offenbaren einander ihre Lebensgeschichten und Geheimnisse. Der Ich-Erzähler ist sofort Feuer und Flamme, auch Nastenka scheint in ihm etwas gefunden zu haben, wonach sie sich lange sehnte.
Dostojewski erzählt das alles in einer blumigen Sprache und mit viel Pathos, für seine Verhältnisse hat Helle Nächte eine enorm klare Handlung und ein Mini-Ensemble. Dass diese Liebesgeschichte so rührend wird, liegt dabei an einem doppelten Gegensatz. Nastenka wartet auf einen Mann, den sie schon lange ins Herz geschlossen hat, der aber erst Geld verdienen will, bevor er sie heiraten und ihr ein gutes Leben bieten kann, und zu diesem Zwecke die Stadt verlassen hat. Ihre Einsamkeit rührt aus seiner Abwesenheit, sie ist fremdverschuldet und hat einen ungewissen Ausgang. Zudem hat die junge Frau auch sonst kaum Gelegenheit, sich zu amüsieren, weil sie sich um ihre Großmutter kümmern muss. Die Einsamkeit des Ich-Erzählers hingegen ist weitgehend selbstverschuldet. Er ist ein verschrobener Einsiedler, so sehr, dass er (und mit ihm der Leser) weiß: Wenn er Nastenka nicht für sich gewinnen kann, wird er wohl für immer alleine bleiben.
Die Energie, die aus dieser Erkenntnis erwächst, ist ein Teil des zweiten Gegensatzes in Helle Nächte: Der junge Mann ist voll und ganz auf die Begegnungen mit Nastenka fokussiert, er ist uneingeschränkt hingerissen und voller Gewissheit. Sie hingehen ist wankelmütig. Sie genießt diesen Flirt, lässt sich aber nicht vorbehaltlos darauf ein. So sehr der Erzähler jeden Abend bangt, ob Nastenka denn überhaupt wieder zum üblichen Treffpunkt kommen wird, so sehr muss sie grübeln, ob der Mann, auf den sie wartet, jemals zurückkehren wird, und ob der neue Verehrer, der sich ihr nun so bereitwillig hingibt, nicht vielleicht die bessere Wahl ist. Als auch ihre Zuneigung zum Ich-Erzähler größer wird, wächst damit parallel der Druck für Nastenka, sich zwischen den beiden zu entscheiden.
Was das Werk zusätzlich auszeichnet, ist eine Parallele, auf die Dostojewski immer wieder verweist: Die Liebe entsteht zuerst in der Fantasie, und das hat sie mit der Literatur gemeinsam. Das Geschehen „wirkt aus der Ferne wie ein Roman“, schreibt er an einer Stelle, anderswo gibt es Seitenhiebe aufs einsame Gedichteschreiben des Erzählers, was natürlich eine gute Dosis an Selbstironie offenbart. Bei einer der ersten Begegnungen lobt unser Liebhaber die junge Frau: „Sie erzählen ganz ausgezeichnet, aber könnten Sie nicht lieber weniger ausgezeichnet erzählen? Denn Sie reden genau so, als läsen Sie aus einem Buch vor.“
Tatsächlich wandelt sich der Blick auf ihn im Laufe der vier Nächte. Er bleibt weltfremd, aber was zunehmend normal, nachvollziehbar und sogar rührend an ihm erscheint, ist die Absolutheit und Konsequenz, mit der er sich in diese Schwärmerei hineinsteigert, weil er letztlich nichts anderes hat im Leben. Das ist eine Leidenschaft, die nicht nur eine weitere essenzielle Zutat für Literatur ist, sondern auch ein Wesenszug der Jugend mit ihrem geradezu euphorischen Gefühlsleben. „Und wie leicht, wie natürlich entsteht diese Märchenwelt der Phantasie! Als wäre das alles wirklich mehr als ein Traumbild! Wahrhaftig, manchmal ist er bereit zu glauben, dass dieses ganze Leben mehr als eine Einbildung erregten Gefühls, keine Täuschung, kein Trugbild der Phantasie, sondern tatsächlich die Wirklichkeit selbst ist!“, heißt es passend dazu an einer Stelle. So groß die Hoffnung ist, die für ihn an dieser Begegnung hängt, so sehr geht es ihm in Helle Nächte doch um die Liebe an sich, notfalls auch ohne Erfüllung. Auch das zeigt Fjodor Dostojewski somit in dieser Novelle: Die Liebe kann maximal selbstlos sein und maximal egoistisch – und spätestens, wenn diese Varianten in einer Dreieckskonstellation aufeinander treffen, endet sie im Drama.
Bestes Zitat: „Wenn wir unglücklich sind, fühlen wir das Unglück anderer stärker mit; das Gefühl wird nicht zersplittert, sondern ballt sich zusammen.“