Frank Turner Undefeated

Frank Turner – „Undefeated“

Künstler*in Frank Turner

Frank Turner Undefeated Review Kritik
Bei „Undefeated“ hat Frank Turner erstmals selbst produziert.
Album Undefeated
Label Xtra Mile
Erscheinungsjahr 2024
Bewertung Foto oben: (C) Public Creations / Shannon Shumaker

Irgendwo in Social Media habe ich kürzlich ein Meme gesehen mit einem Spruch, den ich erstaunlich klug fand. Aus dem Gedächtnis zitiert lautet er ungefähr so: „Die Kindheit endet in dem Moment, in dem man erstmals erkennt, dass die eigenen Eltern fehlbar sind. Das Erwachsenwerden beginnt in dem Moment, in dem man erstmals erkennt, dass man selbst fehlbar ist. Und die Weisheit beginnt in dem Moment, in dem man bereit ist, sich und anderen Menschen dafür zu verzeihen.“

Folgt man dieser These, kann man das Erwachsenwerden von Frank Turner recht präzise im Jahr 1997 datieren. Der Mann, der morgen mit Undefeated sein zehntes Album veröffentlicht, war damals 15 Jahre alt. Er besingt auf der neuen Platte eine Szene aus dieser Lebensphase, genauer gesagt: ein klärendes Gespräch mit seinem Vater, einmal aus dessen, einmal aus der eigenen Perspektive. Ceasefire heißt das Stück, und es lässt keinen Zweifel daran, dass das ein a) damals offensichtlich schwer erkämpfter und b) bis heute für beide Seiten äußerst wertvoller Waffenstillstand war.

Das Lied ist damit sehr typisch für die Erzählerposition, die Frank Turner hier gerne einnimmt: Er blickt mit der Erfahrung, der Abgeklärtheit und den Enttäuschungen eines mittlerweile 42-Jährigen auf das Leben. Aber auch das Aufbegehren, die Ungeduld und der Idealismus der Adoleszenz sind in ihm noch äußerst präsent. Die Zeilen „Now I’m surprised to report / that as I enter my forties / I’ve returned to being an angry man“ bringen das in No Thank You For The Music auf den Punkt. Der Song zeigt zweierlei: Erstens weiß der Engländer, dass sich der von ihm (auch auf Undefeated wieder) so gerne beschworene Zusammenhalt im Zweifel auch durch Abgrenzung gegen die Anderen stärken lässt. Zweitens hat seine Musik weiterhin eine beachtliche, ansteckende, glaubwürdige Energie.

Die Platte, erstmals von ihm selbst produziert und erstmals seit England Keep My Bones (2011) wieder auf einem Independent-Label veröffentlicht, ist frisch, einfallsreich und kraftvoll. Dazu trägt das Zusammenspiel mit seiner Liveband aus Ben Lloyd (Gitarre), Tarrant Anderson (Bass), Callum Green (Schlagzeug) und Matt Nasir (Klavier) bei, ebenso wie die Fähigkeit zur Gelassenheit, die nicht nur aus den Songtexten spricht, sondern auch aus den Sätzen, die Frank Turner diesem Werk mit auf den Weg gibt. „Es gibt keine Klischees über das schwierige zehnte Album, also ist das in gewisser Weise eine befreiende Aussage. Aber gleichzeitig habe ich die Pflicht, das Schreiben und Veröffentlichen eines zehnten Albums zu rechtfertigen. Das sind eine Menge Platten für alle Betroffenen“, sagt er etwa.

Er nennt Undefeated „ein Album über Überleben und Widerstand, aber auch eines mit Spaß und Selbstironie“, und sieht den Auftakt Do One treffenderweise als exemplarisch dafür an. Der Opener ist selbstbewusst, ansteckend und tatendurstig – man will bei diesem Sound sofort ein Rockkonzert besuchen, Bier trinken und sich mit verschwitzten anderen Menschen in den Armen liegen. Zugleich verschweigt er nicht, dass hier jemand mit ersten Falten und grauen Haaren singt, aber weder müde noch verbittert sein möchte.

Das nicht einmal anderthalb Minuten lange Never Mind The Back Problems heißt (ausgerechnet) das härteste Stück der Platte, mit einer ordentlichen Portion von keltischem Knüppelpunk (und erstaunlicherweise einer Erwähnung der Counting Crows), das nostalgisch-romantische East Finchley zeigt sein Talent als Storyteller, Letters wird tatsächlich tanzbar, vor allem dank des großartigen Basses.

Girl From The Record Shop klingt wie die musikalische Entsprechung eines Ramones-Fanclubs für Minderjährige (und das ist eine gute Sache). Show People erzählt mit viel Americana-Touch vom Leben auf Tour, das eine unendliche Plage sein kann und ein riesiges Abenteuer – Frank Turner, der demnächst sein 3000. Konzert spielen wird, weiß dabei natürlich bestens, wovon er spricht. Das akustische On My Way erweist sich als wunderhübsches Liebeslied, beim an Billy Bragg erinnernden The Leaders erkennt man sofort, wo es am liebsten gesungen werden will: auf einer Demo aufrechter Menschen. Der Vorschlag von „Find a sunset to drive into“ klingt in International Hide and Seek Champions natürlich höchst verlockend, das Lied rund um die Fantasie, einfach abzuhauen und alles hinter sich zu lassen, hätte musikalisch auch bestens zu Weezer gepasst.

Pandemic PTSD zeigt, wie meisterhaft Frank Turner längst auch musikalische Komplexität beherrscht. Der Song ist eingängig und straight, überrascht dann aber mit einem brüchigen, irritierenden Klavierpart in der Mitte. So, wie Covid in unser aller Leben(sfreude) hineingekracht ist und bei den meisten bis heute offene Fragen, ein Element der Verunsicherung oder das Gefühl einer verpassten Chance hinterlassen hat, so fasert dieser Teil aus und bleibt in der Schwebe, bis er doch wieder den Weg zu dem bahnt, was davor war und fortan dennoch nicht mehr das Gleiche sein kann.

Der Schluss des Albums zeigt noch einmal die ganze Klasse von Undefeated. So kluge und ehrliche Zeilen wie „I don’t recall being born / but I remember being underwhelmed / when I worked out who I was“ (aus Somewhere Inbetween) muss man erst einmal schreiben, einen so toll komponierten und arrangierten Song ebenfalls. Es geht um den Wunsch nach Zugehörigkeit, Geborgenheit und noch ein paar anderen Dingen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, für Pubertierende ebenso wie für Erwachsene. Der Track endet mit einem Feedback aus dem Gitarrenverstärker, und es klingt wie ein Schmerzensschrei, der aus Frank Turners Teenagerjahren herüber hallt. Exakt durch das Wissen darum, dass diese Selbstverständlichkeit eben keine ist, klingt die hier eingeommene Außenseiter- und Underdog-Position so überzeugend – auch von einem Mann, der zuletzt fünf Top-3-Alben in Folge abgeliefert hat. Da darf man sich mit dem Rausschmeißer Undefeated auch ein kleines bisschen selbst feiern. Das Lied wird erhebend und opulent, längst nicht nur durch das Arrangement mit Klavier, Streichern und Bläsern ist diese Musik ohne Zweifel erwachsen. Und das ist gar keine schlimme Sache.

Ungestüm und graue Haare treffen auch im Video zu Do One aufeinander.

Website von Frank Turner.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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