Ziemlich genau 1000 Menschen sind ins Werk 2 in Leipzig gekommen, um das 2275. Konzert in der Karriere von Frank Turner zu sehen. Manche von ihnen wundern sich vielleicht über den seltsamen Namen des Venues, wenig dürften die Geschichte dahinter kennen: Früher wurden hier Maschinen hergestellt, und zwar solche, die man zur Werkzeugprüfung einsetzen kann. Frank Turner ist mit seinen Sleeping Souls zwar erfreulicherweise Stammgast hier (zuletzt haben sie im Januar 2016 in Leipzig gespielt, teilt Schlagzeuger Nigel Powell während der Show mit), direkt vor dem Auftritt im Werk 2 hat er ein kleines Spontankonzert in einem Plattenladen gespielt, auch die berühmten Söhne der Stadt („Bach, Wagner und der Sänger von Rammstein“) kann er in einer seiner Ansagen problemlos aufzählen. Die einstige Nutzung des Werk 2 dürfte aber auch ihm unbekannt sein.
Dabei fällt es nicht schwer, eine Verbindung zu konstruieren. Die immense Zahl der Auftritte von Frank Turner zeigt eine Produktivität und Robustheit, die durchaus an eine Maschine erinnert. Dieser Mann ist quasi eine wandelnde Fabrik für umwerfende Liveshows. Und wie ein Werkzeug dabei hilft, etwas zu erschaffen, so hat auch er ein ganz bestimmtes Ergebnis im Sinn, nicht nur für seine Musik insgesamt, sondern auch für diesen Abend in Leipzig. „Das soll eine Punk-Rock-Show werden“, verkündet er zu Beginn des Konzerts, und führt dann auch bereitwillig aus, wie er das meint: Alle sind willkommen, alle sind wertvoll, alle helfen einander. „Try not to be an asshole“, heißt seine erste Regel – oder, wie der Titel des neuen Albums es formuliert: Be More Kind.
Auch den Faktor „Prüfmaschine“ kann man finden in dieser Show. Denn im Verlauf der zwei Stunden im Werk 2 vergewissert sich Frank Turner immer wieder, ob er auf dem richtigen Weg ist, um sein Ergebnis zu erreichen. Nicht nur mit den obligatorischen „Seid ihr gut drauf?“-Sprüchen, sondern auch mit erneutem Appell an die gegenseitige Rücksichtnahme, vor I Still Believe in der Zugabe auch noch einmal mit einer geradezu rührenden Ansprache, in der er erzählt, wie wichtig die Punk-Sozialisation für ihn als jugendlichen Außenseiter war, wie sehr er dieses Ethos verinnerlicht hat und wie bereitwillig er daran festhalten wird, auch wenn er jetzt nur noch ein einziges Rancid-T-Shirt im Schrank hat. „Punk rock is my church“, bringt er das auf den Punkt.
In der Idee der Prüfung kann man auch ein wichtiges Motiv für viele Songs erkennen: So wie die Prüfmaschine vom Werkzeug sinngemäß wissen will: „Bist du okay?“, so fragt auch Frank Turner nach dem Wohlbefinden und sucht nach Defekten, in sich selbst, aber auch in der Welt, die uns umgibt. Es ist ein Abgleich von Soll-Zustand und Ist-Zustand, den wir letztlich alle zwischen unseren Idealen und unserer Welterfahrung vornehmen. Genau deshalb ist es einerseits so einfach, sich in seinen Songs wiederzufinden, und wird es andererseits so beglückend, die Liebe zu diesen Liedern mit Gleichgesinnten zu teilen.
Sehr schnell fühlt sich der Abend deshalb sehr vertraut an, wohl auch für jene, die diesen Künstler zum ersten Mal live sehen. Die Atmosphäre ist familiär, die Stimmung feuchtfröhlich: Über den Köpfen sieht man im Laufe des Konzerts deutlich mehr ekstatisch nach oben gereckte Bierbecher als zur Dokumentation des Abends gezückte Handys, Jet Lag ist einer von etlichen Songs, bei denen man sich vorstellen kann, sie würden durch einen Schnaps mit Freunden noch einen Tick besser. Die Achtung der Menschen im Publikum für die Männer auf der Bühne ist hier genauso groß wie die Achtung der Künstler für ihre Fans.
Zugleich finden sich auch neue Elemente. Blackout integriert sehr prominente Disco-Zutaten, Little Changes, ebenfalls vom neuen Album, bietet mehr Pop, als es je zuvor bei Frank Turner & The Sleeping Souls gab. Auch überraschend: Für Dan’s Song holt der Sänger eine Zuschauerin namens Daniela aus dem Publikum auf die Bühne, die ein Mundharmonika-Solo spielen darf, obwohl sie zuvor nie eine Mundharmonika in der Hand hatte, und sichtlich nicht weiß, ob sie diesen Moment genießen soll.
Vom ersten Song namens 1933 über das umwerfende Recovery, das wundervolle Brave Face, in dem das Leipziger Publikum den Gospelchor der Studioaufnahme ersetzen darf, Eulogy, das er auf Deutsch singt, bis hin zu Photosythesis, das mit einem Circle Pit den regulären Teil des Sets beschließt, ist das ein zutiefst beglückendes Erlebnis. Als er bei Four Simple Words zur Zugabe dann auch noch auf der Menge surft, ist die Symbiose zwischen Künstler und Publikum komplett, die so bezeichnend für das Werk von Frank Turner ist. In der Fabrik hätte man wohl gesagt: Top-Qualität, makellos.
Es freut mich sehr, dass Mr Turners Konzert besser an- und weggekommen ist als beispielsweise das von Wanda – alles andere hätte mich doch sehr schockiert.
Ich habe jedoch zwei kleine Anmerkungen bzw. Bitten um Korrektur loszuwerden.
1. Es war Konzert Nummer 2275.
2. Bei dem auf deutsch gesungenen Text handelte es sich nicht um die erste Strophe von „If ever I stray“, sondern viel mehr um ein eigenständiges Lied namens „Eulogy“ vom Album „England Keep My Bones“.
Ich hoffe, die Klugscheißerei wird mir nicht übel genommen, als solche ist mein Kommentar auch nicht gemeint – es soll lediglich alles seine Richtigkeit haben. 🙂
Schöne Grüße, ein begeisterter Frank-Turner-Fan und Wanda-Sympathisant.
Hey K.! Vielen Dank für die Hinweise (und das Lob). Du hast natürlich Recht, der Text ist entsprechend korrigiert. Und dass die Kritik besser ausfällt als bei Wanda hat einen einfachen Grund (ich stänkere gerne noch ein bisschen): die Musik ist einfach besser.
Hallo nochmal! Jetzt gefällt mir der Artikel doch gleich noch viel besser. 😉
Und in Bezug darauf, wessen Musik besser ist, stimme ich dir uneingeschränkt zu.