Künstler*in | Fucked Up | |
Album | One Day | |
Label | Merge Records | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung |
„Wer hat eine Idee dazu?“ „Wie wollen wir das angehen?“ „Möchte jemand einen Vorschlag machen?“ Stellt man solche Fragen in einem Zoom-Meeting, trifft man gewöhnlich auf: Wegducken, Abwarten, Schweigen. Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, im virtuellen Austausch so etwas wie Kreativität zu erzeugen. Nicht umsonst ist mit Beginn der Corona-Pademie eine ganze Industrie entstanden, die Weiterbildung zu den Werkzeugen der Online-Kollaboration anbietet, um solche Situationen zu vermeiden.
Auch Fucked Up kennen dieses Problem. Als sie 2019 die Arbeit an ihrem sechsten Studio-Album begannen, wollte die Kanadier gerne eine Platte mit möglichst viel Spontaneität machen. Das erwies sich natürlich schwierig, denn auch Sänger Damian Abraham, die Gitarristen Mike Haliechuk und Josh Zucker, Bassistin Sandy Miranda und Schlagzeuger Jonah Falco saßen im Lockdown fest und konnten nicht im selben Raum zusammenarbeiten. Die Lösung war so etwas wie eine Online-Challenge, die sich Mike Haliechuk überlegte: Er schrieb innerhalb eines Tages zehn Songs auf der Gitarre und schickte das Material per Mail an seine Bandkolleg*innen. Diese sollten ihre Instrumente beisteuern, und zwar ebenfalls binnen eines Tages und ohne die Lieder vorher einmal gehört zu haben. Daher auch der Albumtitel One Day.
Dass Fucked Up die Challenge für den Nachfolger von Dose Your Dreams (2018) gemeistert haben, wird schon beim flüchtigen Hören klar. Das morgen erscheinende One Day klingt lebendig und organisch – und genug Zeit für ein paar ungewöhnliche Einfälle war in den maximal erlaubten 24 Stunden offensichtlich ebenfalls. „Dieses Album handelt davon, wie wir die Zeit in unserem Leben vergehen sehen. Es repräsentiert die Verwirklichung dessen, was der Songwriting-Prozess von Fucked Up schon immer war, nämlich die Entstehung einer Idee von einer Person, die sich auf andere Mitglieder überträgt“, sagt Jonah Falco. „Die gesamte Entwicklung dieses Albums geschah spontan, was bedeutete, dass man keine Zeit hatte, etwas in Frage zu stellen. Man musste selbstbewusst sein.“
Found eröffnet die Platte und stiftet sofort Chaos und Krawall. Das Schlagzeug ist im Wirbelwind-Modus, die Gitarre sehr hochgepitcht, der Gesang voller Wut auf die Welt. In Summe klingt das, als wollten Fucked Up jeden teeren und federn, der bezweifelt, dass sie nach mehr als 20 Jahren noch immer Hardcore sind. Ähnlich energisch und giftig werden Broken Little Boys und Roar. Auch Huge New Her hat sehr viel Tempo, dazu kommen allerdings verspielte und verschachtelte Gitarren, die beweisen, dass diese Band sowohl dreckig als auch strahlend sein kann.
I Think I Might Be Weird wird luftiger und enthält etwas, das wie eine Mariachi-Trompete klingt, auch Falling Right Under ist ungewöhnlich und betont die große Lust auf Gesangs-Experimente, Melodien und Riffs, die man auf One Day an vielen Stellen entdecken kann. Nothing’s Immortal hat etwas von der Feuchtfröhlichkeit und der angedeuteten Folksong-DNA der Dropkick Murphys, Cicada lässt so etwas wie Leichtigkeit erkennen, sodass man fast versucht ist, „College-Rock“ zu sagen, was sich aber sicher niemand trauen würde, der Damian Abraham einmal live auf der Bühne gesehen hat.
Der Sänger hat erstmals seit Glass Boys (2014) wieder Texte für die Band beigesteuert, auch das hatte mit der Pandemie zu tun. „Es fühlte sich fast so an, als wäre es das letzte Mal, dass ich Gesang für irgendetwas aufnehmen würde. Was will ich den Freunden sagen, die nicht mehr unter uns sind? Was möchte ich mir selbst sagen?“, erklärt er seine Motivation dazu. In Lords Of Kensington wird seine Stimme von einem Background-Gesang begleitet, der so ungewöhnlich und klar ist, dass er eigentlich gar nicht mehr als „Background“ gelten kann, und einen genauso spektakulären Gegensatz zur famosen Hardcore-Komplexität des Tracks bietet wie Abrahams fieser Schrei nach gut drei Minuten. Vielleicht am besten bringt tatsächlich der Titelsong die Wirkung von One Day auf den Punkt: Spektakuläre Elemente werden hier spektakulär zusammengefügt, mit einer erstaunlichen Kombination aus Wucht und Eingängigkeit, Feuer und Inspiration.