Um 19:56 Uhr beginnen Fury In The Slaughterhouse ihr Konzert in der Leipziger Parkbühne, vier Minuten vor dem angekündigten Start. Man kann das bezeichnend finden: Die Band kann es kaum erwarten, endlich loszulegen, und das ist ja auch kein Wunder. Die ausverkaufte Show in Leipzig war eigentlich schon für September geplant gewesen, musste aber verschoben werden – wie die meisten Termine der Tour, die das erste neue Fury-Album seit 13 Jahren begleiten sollte. Die Zwischenzeit hat die Band aus Hannover unter anderem mit Konzerten vor Autos, einem interaktiven Livestream-Event und einem Auftritt im Rahmen der Reihe „Rockpalast OFFSTAGE“ gefüllt.
Wie sehr sie sich nach regulären Live-Bedingungen gesehnt haben, nach Gesichtern im Publikum, nach Armen, die in der Luft geschwenkt und Handys, die beim persönlichen Lieblingslied zwecks Videomitschnitt gezückt werden, ist offenkundig. Das gilt auch für die 3000 Fans in Leipzig. Nicht nur die unfreiwillig lange Wartezeit auf diese Show hat offensichtlich ihre Vorfreude gesteigert. Die nach wie vor präsente Covid-19-Pandemie dürfte auch dazu beigetragen haben, dass es für viele in der Parkbühne das erste Konzerterlebnis seit sehr langer Zeit ist, für manche vielleicht sogar der erste Abend in diesem Jahr, an dem man sich schick macht, den Ehemann oder die Arbeitskollegin schnappt und es sich gemeinsam mit Gleichgesinnten gut gehen lässt.
Für Fury In The Slaughterhouse sind das ideale Bedingungen, denn solch ein Abend entspricht dem, was der Psychologe Stephan Grünewald vom rheingold-Institut „die Selbstermächtigung durch Aktivität“ nennt. „Sie holt uns aus dem Gefühl der Ohnmacht, das viele Menschen gerade empfinden. Und sie bringt uns unter Menschen.“ Als die Band nach rund 20 Minuten All About Us vom neuen Album anstimmt, wird das überdeutlich: „Let us be the ones to live their lives“, heißt die erste Zeile des Lieds und im Refrain wird der Effekt noch klarer: „It’s all about you, it′s all about me / it’s all about us and what we could be / it is on us to make a change / we can try it on our own / but we won’t make it alone.“
Der Song (der ursprünglich für ein Fußball-Event gedacht war, wie Sänger Kai Wingenfelder in der Ansage verrät), funktioniert live noch besser und fasst die Stimmung des Abends gut zusammen: Viele im Publikum tragen die Shirts früherer Fury-Tourneen, auch am Getränkewagen abseits der Bühne wird noch mitgeklatscht, ganz hinten klettern Damen nahe am Rentenalter auf die Holzbänke, um bei ihrem liebsten Hit ein bisschen besser sehen zu können.
Fury In The Slaughterhouse halten die Fans im „Saunaclub Parkbühne“ (ihre eigene Einschätzung) mit einem sehr geschickten Mix aus neuen und alten Stücken bei Laune. Good Day To Remember eröffnet die Show, vor Radio Orchid als viertem Song des Abends geht ein kollektiver Seufzer der Entzückung durchs Publikum, 1995 wird ebenso abgefeiert wie Replay, vor Dead And Gone erfragt die Band ironisch, ob sich alle noch an die üblichen Konzertroutinen erinnern oder ob nach drei Jahren Pause bereits die Demenz eingesetzt habe. Die Show in dieser Spielstätte, wo Fury quasi Stammgäste sind, wenn sie in Leipzig auftreten, fühle sich an wie „Boris Becker in Wimbledon“, scherzt Gitarrist Christof Stein-Schneider.
Auch jenseits der gerne etwas schwarzhumorigen Ansagen (Trapped Today, Trapped Tomorrow wird der Deutschen Bahn gewidmet und bekommt ein Beinahe-Country-Arrangement) hat die Band ein paar Überraschungen dabei. Sometimes (Stop To Call) gibt es als Akustikversion, Riding On A Dead Horse wird die erste Zugabe, vor Every Generation’s Got Its Own Disease stellt Kai Wingenfelder treffend fest, dass dies auch deshalb sein Lieblingslied ist, weil es (leider) immer wieder aktuell ist, so auch heute.
Gelegentlich kann man den Eindruck haben, dass die insgesamt sieben Personen auf der Bühne ein bisschen zu sehr miteinander um die Aufmerksamkeit, das Rampenlicht oder die beste Punchline konkurrieren. Aber diese Reibung zwischen den Musikern ist wohl letztlich ebenso wichtig für den Charakter dieser Band wie ihre Fähigkeit, seit mehr als 35 Jahren immer wieder Lieder zu schreiben, die hymnisch genug für den Mainstream, aber auch von einem Alternative-Selbstverständnis getragen sind – man kann hier wohl mit einigem Recht von einer deutschen Variante von U2 sprechen. Im fünf Songs umfassenden Zugabenblock feiert die Band unter anderem mit dem rasanten Kick It Out, dem selig gefeierten Won’t Forget These Days oder dem sehr stimmungsvollen Down There als Schlusspunkt nicht zuletzt auch diesen Status – und die Fans in Leipzig feiern gerne mit.