Man könnte dieses Timing für eine Kampfansage halten. Albrecht Schrader hat von 2016 bis 2019 gemeinsam mit Lorenz Rhode das Rundfunktanzorchester Ehrenfeld geleitet. Wenn dieses Ensemble aus dem Neo Magazin Royale nun gemeinsam mit Jan Böhmermann auf Tour geht, während die Fernsehshow in der Winterpause ist, könnten sie zumindest im Radio noch auf ihren Ex-Chef treffen, der damit vielleicht die Botschaft sendet: Ich bin auch noch da, und ich verdiene auch Aufmerksamkeit. Denn mit Für Dich bleibe ich ein Mann gibt es jetzt eine neue Single von Albrecht Schrader, zugleich einen Ausblick auf sein drittes Album Soft, das am 20. Januar erscheinen wird und erstmals von ihm komplett in Eigenregie produziert wurde. Dass der 40-Jährige seiner Tätigkeit als Orchestermitglied nachtrauert, ist indes nicht zu vermuten: Er schreibt Musik für andere Künstler*innen ebenso wie für Theaterstücke, Film- und Fernsehproduktionen, leitet die von ihm mitgegründete Plattenfirma Krokant und scheint somit bestens ausgelastet. Nicht zuletzt unterstreicht der neue Song, wie sehr er seinen eigenen Stil immer weiter verfeinert, der zuletzt 2020 auf Diese eine Stelle zu hören war. Der Blick fürs Detail ist auch in Für Dich bleibe ich ein Mann (***1/2) wieder zentral. Nach dem anfangs üppigen Harmoniegesang à la Die Prinzen erweist sich das Lied als sehr behutsam arrangiert, zum Klavier gesellen sich später nur etwas Bass und ein Beat, der dem Albumtitel Soft alle Ehre macht. Vor allem aber wird hier mit wenigen Worten einer Verschiebung im gesellschaftlichen Status nachgespürt, die sich zunächst bloß in kleinen Momenten zeigen mag, aber große Bedeutung hat. Der Text handelt von der Verwunderung über die Männer in der unmittelbaren Umgebung des Erzählers. Sie waren offensichtlich mal im Reinen mit sich, sie wirkten wie die natürlichen Herrscher der Welt, jetzt jedoch sind überall Verunsicherung, Frust, Unbehagen und Wut zu spüren. Dass sich Albrecht Schrader über die seltsamen Bewältigungsstrategien für diesen Wandel nicht lustig macht („Du musst nicht drüber reden / du kannst auch erstmal / du kannst jederzeit den Rasen mähen“, lautet das Angebot), ist die Stärke dieses Songs und soll auch typisch für die neue Platte insgesamt sein, auf der es immer wieder um die Suche nach Verbindung und Verständigung gehen soll. Eine Verständigung mit dem Rundfunktanzorchester, womöglich auf einer Autobahnraststätte oder in einem Backstage-Bereich, wird er indes knapp verpassen: Die Böhmermann-Tour endet am 21. Januar, Albrecht Schrader ist dann ab 26. Januar dreimal live zu erleben.
Apropos Krise der Männlichkeit: In der Welt von pubertierenden Problemkindern und Ü30-Möchtegern-Gangstern ist ein neues Album von Haftbefehl sicher weiter eine große Nachricht. Am 2. Dezember ist es so weit, dann erscheint Mainpark Baby, benannt nach der Siedlung in Offenbach, in der Aykut Anhan (so der bürgerliche Name) aufgewachsen ist. „Ich bin da groß geworden. Eigentlich hatte ich eine tolle Jugend, aber es sind auch eine Menge Sachen gelaufen, die aus heutiger Sicht nicht unbedingt hätten passieren müssen. Ich bin aber immer noch oft da und habe eine Menge Freunde dort“, erzählt er dazu. Allzu biographisch wird es aber im Vorab-Track Die braune Tasche (**) nicht. Stattdessen reimt sich „Vibe“ auf „Weib“, Bazzazian hat einen soliden und betont kalten Sound dazu erschaffen, und die Botschaft ist natürlich weiterhin: Ich habe reichlich Kohle, ich lasse mir nichts sagen, im Zweifel kriegst du aufs Maul. „Ich wollte vor allem ein richtig geiles Hip-Hop-Album machen. Das weiße und das schwarze Album hatten einen roten Faden, sie gehörten untrennbar zusammen. Das weiße stand für das Licht, den Tag, die Party, das schwarze für die Düsternis und die Abgründe danach. Auf Mainpark Baby wollte ich die Mitte zwischen diesen beiden Extremen ausloten“, sagt Haftbefehl, der zuletzt auch mit gesundheitlichen Problemen für Schlagzeilen gesorgt hat. Vielleicht ist das auch der Hintergrund, warum zum neuen Album (zunächst) keine Tourpläne angekündigt werden. Immerhin: Zum Release gibt es eine Reihe von Kurzfilmen, die womöglich ambitionierter und lohnender sind als die Musik.
Mike und Nate Kinsella haben neben ihrer Tätigkeit als Mitglieder von American Football offensichtlich weiter mächtig Spaß mit ihrem Nebenprojekt Lies. Mit der Single Camera Chimera (***) legen sie in diesem Jahr schon den fünften neuen Song vor. Er „handelt von den beängstigenden und oft lähmenden Nebenwirkungen der Interaktion und Existenz in den sozialen Medien“, erklärt Mike Kinsella dazu. „Es geht nicht nur darum, sich von anderen manipuliert zu fühlen, sondern auch darum, mit der Realität und den Konsequenzen der eigenen Lügen und Manipulation konfrontiert zu werden und wie es dich mental und emotional in eine Spirale bringen kann.“ Der Gesang darin würde sicher Morrissey gefallen, das Klavier ist hypnotisch, der Beat komplex, Lies zeigen, dass sie innerhalb eines einzigen Songs filigran und knallhart sein können, sphärisch und innovativ. „Too obscene to be unseen“ heißt die zentrale Zeile des Lieds, auch der Videoclip orientiert sich an dieser Idee, wie Regisseurin Rachel Cabbit als Teil von Pond Creative erläutert: „Unsere Inspiration für das Video begann mit der Bedeutung der Kreation des Songtitels, einem mythischen Mischwesen. Wir wollten, dass Nate und Mike durch die Linse des Betrachters im Laufe des Videos immer mehr verzerrt werden und eine hybride Form ihrer selbst werden. Dabei haben wir die analoge Technik des Druckens und Scannens tausender Einzelbilder verwendet, um die Verzerrung immer weiter zu verstärken und ein mysteriöses Lo-Fi-Visual zu schaffen.“ Von einem neuen Album ist bei Lies erstaunlicherweise noch keine Rede, aber vielleicht sind die beiden mit der Arbeit an Singles, in die sie so viel Liebe zum Detail stecken können, auch einfach glücklicher.
Die Entwicklung in der Musik von Charlie Cunningham war schon zwischen dem Debütalbum Lines (2017) und dem Nachfolger Permanent Way (2019) offensichtlich, ebenso in den mittlerweile fast 500 begleitenden Konzerten. Neben seine Fähigkeiten als Gitarren-Virtuose, die der Brite unter anderem während eines dreijährigen Aufenthalts in Sevilla perfektioniert hat, traten immer mehr auch sein Gesang und das Klavier als weiteres prägendes Instrument in den Vordergrund. Für das dritte Album Frame, das am 31. März 2023 erscheinen wird, geht er noch weiter in diese Richtung. Angekündigt sind Einflüsse aus Art-Rock-, Jazz und Neo-Klassik. „Unsere Persönlichkeiten bestehen aus unterschiedlichen Aspekten und Bausteinen – diese Songs sind Dialoge zwischen meinen“, begründet er diese zusätzliche Vielfalt. „Mit den eigenen Widersprüchlichkeiten umzugehen und in ihnen sogar etwas Positives zu sehen, ist eine Frage der Selbsterhaltung.“ Einen ersten Eindruck vermittelt die neue Single So It Seems (***1/2). Die akustische Gitarre steht hier weiterhin (buchstäblich auch im dazugehörigen Video) im Zentrum. Die warme, wohlige und zugleich brüchige, von Zweifeln erschütterte Atmosphäre, zu der beispielsweise auch Klavier, Besenschlagzeug und dezente Orchesterelemente im Hintergrund beitragen, ist hier aber viel wichtiger als das Zurschaustellen von Virtuosität. Im Frühling 2023 ist Charlie Cunningham auf Tour und schaut am 29. April auch in Leipzig im Felsenkeller vorbei.
Seit 2013 machen Aarich Jespers und Kobe Proesmans als The Colorist Orchestra gemeinsam Musik. Die beiden Belgier haben sich spezialisiert auf besonders originelle Coverversionen, in denen sie die Originale oft mit Elektronik oder exotischen Klängen anreichern. Mit Emiliana Torrini scheint das besonders gut zu funktionieren. Schon 2015 arbeiteten sie erstmals mit der isländisch-italienischen Künstlerin zusammen, damals waren eigentlich bloß fünf gemeinsame Konzerte geplant. Beide Seiten fanden die Kombination aber so spannend, dass daraus dann noch ein Album wurde, das 2018 veröffentlichte The Colorist Orchestra & Emiliana Torrini. Voneinander lassen wollten sie auch danach nicht, und so wird es am 17. März 2023 mit dem Album Racing The Storm einen Nachfolger geben. „Wir haben damals die Liveauftritte gemacht und dann das gemeinsame Album promotet, und als das vorbei war, dachten wir irgendwann: Wäre es nicht schön, wenn wir wieder eine neue Ausrede dafür finden, gemeinsam spielen zu können? Also entstand der Gedanke, ein neues Album zusammen zu machen“, sagt Kobe Proesmans. Die Single Right Here (***) ist die erste Veröffentlichung daraus. Die unnachahmliche Stimme der Sängerin mit klassischer Opernausbildung prägt den Song, dazu kommen ein geheimnisvoller Rhythmus und eine originelle Instrumentierung – und die Freude am gemeinsamen Musizieren kann man auch im Video bestens nachvollziehen.