Jeden Abend um 18 Uhr kürt Clara Amfo auf BBC Radio 1 die „Hottest record in the world“, wie es schon ihre Vorgängerin Annie Mac getan hatte. Es ist seit Jahren ein Schaufenster für spannende neue Musik und für viele Newcomer ein wichtiges Sprungbrett hin zu einem Massenpublikum. Auch wenn es also pro Jahr stattliche 365 solcher „Hottest records“ gibt, kann sich Alfie Templeman durchaus etwas auf seine kleine Erfolgsserie einbilden: Zum sechsten Mal in Folge wurde ein neuer Song von ihm auf diesem Sendeplatz präsentiert. Diesmal ist es die neue Single Broken (****). Sie klingt in der Strophe funky wie The Kooks, im Refrain heiter wie der Two Door Cinema Club und erweist sich als ungemein fröhliches Lied über eine persönliche Krise wie man das bei den Wombats oft findet. Kein Wunder, dass der 19-Jährige wahlweise als „Indie-Wunderknabe“ oder „echte Macht in die britischen Indiepopwelt“ bezeichnet wird. Trotz bisher mehr als 120 Millionen Streams weltweit und Lobpreis für praktisch alles, was er veröffentlicht hat (von der Debütsingle Like An Animal 2018 bis zum Minialbum Forever Isn’t Long Enough im vergangenen Jahr) kennt er dabei durchaus auch Schattenseiten, Probleme und Verzweiflung. „Irgendwie ist es eine Hymne für alle in meinem Alter. Es geht um den ganzen Eiertanz in der Teenagerzeit, wenn man versucht, sich selbst zu verstehen, und darum, dass es ein wichtiger Teil des Erwachsenwerdens ist, sich selbst zu analysieren”, sagt Templeman über Broken. Das mag noch recht pauschal nach „Coming of age und seine Risiken und Nebenwirkungen“ klingen, eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass der Teenager hier über eine Angststörung berichtet, die ihn seit Kindheitstagen begleitet. „Ich spreche zum ersten Mal wirklich offen darüber, wo ich mental stehe. Diese Schwelle zu überwinden, hat mein Leben verändert“, sagt er über die 14 Tracks auf seinem für 27. Mai angekündigten Debütalbum Mellow Moon, an dem er seit Anfang 2020 unter anderem mit Tom McFarland (Jungle), Justin Young (The Vaccines), Will Bloomfield und Rob Milton gearbeitet hat. „Die Leute denken wahrscheinlich, dass ich ein unkomplizierter, kontaktfreudiger Mensch bin, aber ich habe viel mehr Facetten. Und diese Platte zeigt das“, sagt Alfie Templeman, der elf verschiedene Instrumente beherrscht, die er sich durchweg selbst beigebracht hat. „Songs wie Broken zu schreiben, war wie eine Therapie. Ich habe gefragt: ‚Was stimmt nicht mit mir?‘ und ‚Wie kann es mir besser gehen?‘ Ich habe die Antworten darauf einfach in Echtzeit herausgefunden. Ich hatte eine Therapie, aber in meinem Kopf waren immer noch Dinge ungelöst. Also suchte ich die Antworten in der Musik.“ Die Platte wird begleitet von einer Tour im UK, im März wird er auch in Köln, Hamburg, Berlin und München zu sehen sein.
Auch Sarajane kennt die Angst, in ihrer neuen Single Waiting For Your Love (***1/2) ist es die Angst davor, zwar eine Verbindung und Beziehung zu einem anderen Menschen zu haben, diesen aber schon lange nicht mehr verstehen zu können und so nach und nach die gemeinsame Basis zu verlieren. Tiefe Klaviertöne (die ersten Akkorde komponierte sie zuhause mit ihrem kleinen Sohn auf dem Schoß) und ein dezenter Beat lassen dabei ihre Stimme strahlen und erzeugen eine Intensität und Intimität, die auch zu Alicia Keys passen würde. Dass der Song, der den ersten Vorgeschmack auf ihr drittes Album Milk & Money gibt, mit seiner zentralen Zeile „Remember we’re in this together‟ nicht nur für eine Liebesbeziehung passt, sondern auch eine gesellschaftliche Komponente hat, zeigt spätestens das Video. Der Clip wurde in der Ruine der ehemaligen Wohnung des Rabbiners der Synagoge in der Poolstraße 12 ihrer Heimatstadt Hamburg gedreht, die 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde. Sarajane hat hier vielleicht so etwas erschaffen wie das Format der Serie „Deutschland spricht“ in der Zeit, kondensiert auf 188 Sekunden intelligente, gefühlvolle Popmusik.
Noch ein ganzes Stück persönlicher wird es bei Cary aus Leipzig. Sie hat gerade ihre erste EP Dialog veröffentlicht und zeigt mit dem Titelsong (****), wie Haiyti klingen könnte, gäbe es bei ihr nur die dunklen Momente, keine Euphorie und keinen Glamour, oder was bei AB Syndrom entstehen könnte, hätten die Jungs plötzlich eine eindrucksvolle Soul-Stimme entwickelt. „Wann fängt das mit dem Fühlen wieder an?“, lautet die wichtigste Frage, begleitet zunächst nur von Rhodes-Klängen und Fingerschnippen, später von reduzierten Beats in der Nähe von Trap – und das Beängstigende an dieser Zeile ist natürlich die Möglichkeit, dass die Antwort „nie mehr“ lauten könnte, man also verdammt wäre zu einem apathischen Dasein ganz ohne Glück. „Meine Lebensaufgabe ist es, real zu sein. Ich will überall genau so sein können, wie ich bin“, sagt Cary, und diesem Motto folgt sie offensichtlich mit beeindruckender Konsequenz. In anderen Tracks der EP geht es ebenfalls um Einsamkeit und Depression oder um die hohle Oberflächlichkeit von Datingportalen. Sehr spannend.
Musik, die aus Verzweiflung und Isolation entsteht, das war vor mehr als einem Vierteljahrhundert der Ausgangspunkt für Tinariwen. Die “Leute der Wüste“ (so lässt sich der Bandnamen übersetzen) sind bekanntlich Tuareg, Kinder eines nomadischen Berberstammes, der seit Tausenden von Jahren durch die Sahara zieht. Seit den 1960er Jahren ist diese Lebensweise bedroht, denn ihre Heimat ist jetzt zwischen Ländern wie Mali, Algerien, Libyen, Niger und Burkina Faso aufgeteilt und nur selten wird der Anspruch der Tuareg auf ihr angestammtes Land in diesen Staaten respektiert. Manche sind deshalb im offenen Aufstand (der Initiator von Tinariwen, Ibrahim Ag Alhabib, musste mit ansehen, wie sein Vater als Rebell von der malischen Regierung hingerichtet wurde), viele andere verließen die Region. Im Exil erschufen die Flüchtlinge einen Mix aus traditioneller westafrikanischer Musik und Rock, den manche Kritiker als „Wüstenblues“ bezeichnet haben und der längst auch jenseits von Afrika viele Fans gefunden hat. Am 25. März feiern sie das 20. Jubiläum von The Radio Tisdas Sessions, ihrem ersten kommerziell veröffentlichten Album, das in Kidal (einer Stadt im Tuareg-Gebiet im Nordosten von Mali) bei einem lokalen Radiosender aufgenommen wurde. Die Platte kommt remastered und mit Liner Notes heraus, zudem gibt es auf der Neuauflage den bisher unveröffentlichten Bonus-Song Taskiwt Tadjat (***). E-Gitarre und Percussions sorgen für das ungewöhnliche, manchmal irritierende und frei schwebende Element in diesem Song, der Chorgesang zeigt, wie unmittelbar einnehmend die Musik von Tinariwen, die nach vielen Umbesetzungen mittlerweile mehrere Generationen in ihrer Band vereinen, auch sein kann. Auch Amassakoul, das 2004 erschien und in der malischen Hauptstadt Bamako aufgenommen wurde, wird am selben Tag neu veröffentlicht.
Apropos unterdrückte Minderheiten: Was die Kombination aus „black“ und „queer“ auch in den vermeintlich aufgeklärten USA und auch in der vermeintlich liberalen Alternative-Szene bedeuten kann, davon können Proper ein Lied singen, und genau das tut das Trio aus Brooklyn auf der neuen Platte The Great American Novel (kommt am 25. März heraus) auch. Es sei „ein Konzeptalbum darüber, wie schwarze Genies ignoriert, unerbittlich angefochten oder einfach komplett ausgelöscht werden, bevor sie sich entfalten können. Die Platte soll sich wie ein Buch lesen, jeder Song ist ein Kapitel, das den Protagonisten durch seine 20er Jahre begleitet. Stell dir einen queeren, schwarzen Holden Caulfield vor, der in den 2010er Jahren aufwächst“, teilen Gitarrist und Sänger Erik Garlington, Bassistin Natasha Johnson und der Schlagzeuger Elijah Watson mit. Für die 15 Tracks haben sie sich nach eigenen Aussagen unter anderem von At the Drive-In und System Of A Down inspirieren lassen. Die neue Single Huerta (***1/2) bestätigt das mit einem Mix aus Wut, Virtuosität, Sensibilität und Provokation („Don’t wanna be just another dull American“) und führt direkt in die Familiengeschichte und zur Identitätssuche von Garlington: „Wir stehen kurz vor unserem dritten Album und mir wurde erst jetzt klar, dass ich noch keinen Song über mein mexikanisches Erbe geschrieben hatte“, erzählt er. „Mein Großvater ist in den 1950er Jahren in die USA eingewandert, starb aber schon vor meiner Geburt und kappte damit die einzige Verbindung meiner Familie zu Mexiko. Ich wuchs mit einer romantischen Vorstellung davon auf und erst als ich älter war, als meine Mutter und ihre Geschwister ohne den Filter, den man verwendet, wenn man mit Kindern spricht, über ihren Vater sprachen, begann ich kritisch zu untersuchen, was Herkunft und Abstammung eigentlich bedeuten. In Huerta geht es darum, den am wenigsten bereisten Teil der eigenen Persönlichkeit zu betrachten.“