Man kann bei einem Künstler wie Casper sicher erahnen, wie groß seine Lust sein muss, aus der Rezeption als „der HipHop-Typ mit der Reibeisenstimme“ auszubrechen, die schon längst viel zu eng gefasst ist für sein Werk. Was er in der neuen Single Emma (****) anstellt, ist trotzdem mutig und Augen (meinetwegen auch Ohren) öffnend: Das Thema ist bereits überraschend, der Sound ist es erst recht. Es geht um das Gefühl, unverstanden und am Ende zu sein. „Ich glaube, man neigt dazu, sehr gegen dieses Gefühl anzukämpfen und ich wollte mit dem Lied einfach nur ausdrücken, dass es total in Ordnung ist, mal nicht weiter zu wissen und drüber zu sein“, erklärt der Mann, der bisher vier Nummer-1-Alben vorzuweisen hat, und mit Emma zugleich den ersten Ausblick auf das neue Album Nur liebe, immer gibt, das am 24. November erscheinen wird. Der neue Track ist viel eher Folk als Rap, am Anfang klingt er sogar fast wie ein Demo, bevor er sich am Ende doch noch in einen mächtigen Taumel stürzt. „Meine Musik und meine Herangehensweise an sie waren immer sehr recherche- und konzeptbasiert. Davon wollte ich mich komplett lösen und im Songwriting einfach mal gucken, was ‚im Moment passiert‘. Es hat sich am Anfang sehr nackt angefühlt, so ‚leise‘ und ‚klein‘ zu sein – aber ich entdecke immer mehr meine melodischere Seite“, erzählt der Mann aus Bielefeld. Die Gemeinsamkeiten zwischen Folk und Rap zeigt er mit Emma ebenfalls sehr gekonnt auf: In beiden Genres geht es um Poesie, und in beiden gibt es eine besondere, vielleicht natürliche Sympathie für Außenseiter*innen.
Auch Taylor Kirk alias Timber Timbre vereint auf seinem neuen Album (Lovage ist für den 6. Oktober angekündigt) Einflüsse und Genres, die man nicht unbedingt zusammen erwarten würde. Der Kanadier nennt etwa italienische Sänger, Sun Ra, Dorothy Ashby und Alice Coltrane als Eckpfeiler für das neue Werk, vor allem aber Brian Wilson und Leonard Cohen. Insbesondere die beiden Letztgenannten würden „verkörpern, was Musik für mich ausmacht“, sagt er. Der erste Vorgeschmack Ask The Community (***), der zugleich Opener des Albums sein wird, verdeutlicht das tatsächlich eindrucksvoll. Die Eleganz des Sounds und die Ausgefeiltheit des Arrangements kann man als die Wilson-Faktoren erkennen, der gewitzte, beinahe sarkastische Text bildet einen wunderbaren Kontrast dazu und hätte wohl tatsächlich auch ins Cohen-Oeuvre gepasst. Auch Cake hätte man so einen Mix vielleicht zugetraut, The Blood Arm ebenfalls. „Ich war schon immer ein introvertierter Mensch, wenn nicht sogar ein wenig asozial“, erzählt Taylor Kirk. „Kürzlich kam mir der Gedanke, dass man, wenn man aus irgendeinem Grund eine Leiche sehen möchte, einfach die Gemeinschaft fragen kann. (…) Die Leute werden dir eine Leiche zeigen, ob du sie sehen willst oder nicht. Das ist einer der großen Vorteile der Zugehörigkeit zu einer wohlmeinenden, liebevollen und unterstützenden Gemeinschaft“, scherzt er, wohl nicht zuletzt mit Blick auf das Reddit-Zeitalter. Mitgewirkt an Lovage haben Michael Dubue als Produzent (in seinem Studio in Quyon, Quebec ist die Platte auch entstanden, er hat zudem Keyboards und Gesang beigesteuert) und Schlagzeuger Adam Bradley Schreiber. Am 2. November ist Timber Timbre in Leipzig im UT Connewitz zu sehen.
Bei Kaizers Orchestra muss man sich über die Melange verschiedenster Stile schon lange nicht mehr wundern, die Musik der Norweger deckt die ganze Spanne von Klagelied aus dem Dreißigjährigen-Krieg bis zu Industrial-Klängen aus der Zukunftsdisco ab. Ihr Comeback feiern sie im Herbst mit 56 ausverkauften Konzerten in ihrer Heimat vor insgesamt 80.000 Fans (die Tour war innerhalb einer Viertelstunde ausverkauft), nun gibt es auch die erste Single seit zehn Jahren, nämlich Dine gamle dager er nå (***1/2), produziert von Jørgen Træn. Das Lied klingt tatsächlich, als werde nach vielen Jahren eine eine mächtige, durchaus auch gefährliche Maschine wird wieder hochgefahren, für Spannung und Gravitas sorgen neben der Orgel, den Bläsern und einem stolpernden Rhythmus auch das legendäre Ölfass als Markenzeichen-Instrument von Kaizers Orchestra und der Gesang, der wie von einem Chor aus der Unterwelt klingt. „Viele Leute haben uns gefragt, ob wir über die Jahre Kaizer-Ideen für ein mögliches Comeback aufgehoben haben. Das haben wir nicht! Wir sehen die Musik, die wir machen, als eine Währung der Gegenwart an. Sie hat etwas mit Gefühlen, Wachstum und Energie zu tun“, teilt die Band dazu mit. Frontmann Janove Ottesen hat Dine gamle dager er nå demnach erst im Januar 2023 geschrieben, eine Woche vor Start der Proben für die Comeback-Tour. „Wir wollten etwas machen, das man als klassische Rockhymne mit Kaizers‘ einzigartiger Instrumentierung beschreiben könnte. Diese Erfahrung hat unglaublichen Spaß gemacht“, schwärmen sie. Man darf davon ausgehen, dass sich das auch in Form eines neues Albums niederschlagen wird.
Noch viel, viel länger liegt die letzte neue Musik von Östro 430 zurück, doch jetzt ist die legendäre Gruppe wieder da, die in Deutschland zu den Bands der ersten Stunde im Punk gehörte. Obwohl das letzte Studioalbum des Quartetts tatsächlich aus dem Jahr 1983 stammt und sie sich im Jahr darauf aufgelöst haben, hatte sich ein Comeback durchaus angedeutet. Seit 2019 sind sie in der Besetzung mit Martina Weith (Gesang, Saxophon, Akkordeon), Bettina Flörchinger (Keyboards, Synthesizer), Anja Peterssen (Bass) und Sandy Black (Schlagzeug) wieder aktiv, im Jahr darauf brachte Tapete Records mit der Werkschau Keine Krise kann mich schocken die Band und spektakuläre Songs wie Sexueller Notstand, S-Bahn und Zu cool zusätzlich wieder in Erinnerung. Schließlich erschien auf Tribute-Alben und -Veranstaltungen für Rio Reiser und Stoppok auch neues Material, wenn auch zunächst bloß Coverversionen. Am 1. September wird diesen Lebenszeichen ein neues Album folgen, das den schönen Titel Punkrock nach Hausfrauenart trägt. Als Gäste sind Bela B. (Die Ärzte), die Urgesteine von Bärchen & die Milchbubis und Stefan Stoppok dabei – all das unterstreich den Status, den Östro 430 haben. Nimmt man Fick das System (****), einen der neuen Songs, den sie schon eine ganze Weile wieder live spielen, als Maßstab, zeigt sich natürlich auch, dass die Band so schonungslos und einzigartig wie eh und je agiert, und dass ihr feministischer Ansatz in den vergangenen 40 Jahren keineswegs an Relevanz oder Dringlichkeit verloren hat. Und es ist wieder einmal der Beweis: Man braucht keine Gitarren, um Punk zu sein.
„Fick dich für immer“, lautet derzeit auch das Motto bei Future Franz, zumindest ist das die erste (und zentrale) Zeile seiner neuen Single Für immer Samstag (***1/2). Die Anpassung des Kalenders nach Franz’scher Art bedeutet dabei keineswegs, dass täglich Party gemacht wird. Vielmehr nutzt er diese Gelegenheit zum endlosen Chillen. Dass Tagträume von Kuchenessen und Faulenzen im Pool sogar von einer Panflöte begleitet werden, ist da nur konsequent – und das Video (von Future Franz wieder selbst produziert), in dem selbst Wolken und Füße der stressigen Welt den Mittelfinger zeigen können, ist der Hammer. Im Frühjahr 2024 soll es dann ein neues Album geben.