Das fünfte Studioalbum von Die Nerven wird am 7. Oktober 2022 erscheinen und so heißen wie die Band. Solch eine Programmatik lässt ja, wenn es sich nicht um das Debüt handelt, immer an Neubesinnung, back to the roots oder eine stärkere Fokussierung aufs Wesentliche denken. Das ist auch beim 2010 in Stuttgart gegründeten Trio so. Kevin Kuhn (Schlagzeug), Julian Knoth (Bass und Gesang) und Max Rieger (Gitarre und Gesang) haben in gewisser Weise eine neue – und zwar viel stärker als zuvor gemeinsame – Identität gefunden. Die zehn neuen Songs, die in den Berliner Candy Bomber Studios live eingespielt wurden, stellen deshalb Symbiose und Zusammenspiel mehr in den Mittelpunkt. Zugleich sind die (durchweg bereits in den Jahren 2018/19 entstandenen) Texte noch reduzierter geworden, was wiederum mehr Raum für Interpretationen gibt. Das beweist auch die erste Single Europa (****), die Die Nerven unlängst im ZDF Magazin Royale vorgestellt haben. „Ich dachte irgendwie / in Europa stirbt man nie“, heißt es darin, passend zum neuen Selbstverständnis als mehrköpfiges Monster einmal von Rieger, einmal von Knoth gesungen. Die Verse können sich vielleicht auf die politisch verordnete Grausamkeit an den Grenzen des Kontinents beziehen, vielleicht auf eine Bequemlichkeit, die plötzlich von sich überlappenden Krisen (Klima, Krieg, Pandemie) erschüttert wird, sodass man womöglich jetzt erst merkt, wie arrogant sie war. Der hier besungene Elfenbeinturm hat begonnen, gefährlich zu schwanken, und die Bewohner auf der Insel der Seligen haben erkannt, dass ihre vermeintliche Sicherheit mit dem Blut der Armen anderswo in der Welt erkauft wurde. Die ruhige Strophe lässt an den Slacker-Gestus der frühen Tocotronic denken, der heftige zweite Teil beschwört eine ziemlich bedrohliche Zukunft herauf, was durch die Unterstützung des Rundfunktanzorchesters Ehrenfeld fast einen Live And Let Die-Charakter bekommt . Ab Oktober sind Die Nerven auf Tour, am 5. November kann man sie in Leipzig im Conne Island erleben.
Natürlich gibt es inmitten all der Katastrophen der Welt auch noch gute Nachrichten, zum Beispiel die Ankündigung des zweiten Albums von Stella Donnelly. Flood wird am 26. August bei Secretly Canadian erscheinen, die Australierin hat den Nachfolger von Beware Of The Dogs (2019) zusammen mit Anna Laverty und Jake Webb von Methyl Ethyl produziert. Inspiration fand sie unter anderem in den Regenwäldern ihrer Heimat, wo sie ausgiebig Natur und Vögel beobachtet hat. Nach eigener Auskunft konnte sie dadurch „das Gefühl verlieren, dass irgendjemand auf mich reagiert. Ich vergaß, wer ich als Musikerin war, und es war eine überwältigende Erfahrung, einfach nur zu sein, mein kleines Ich zu sein.“ Die Lust auf das Zurechtrücken von Maßstäben und die großen Fragen des Lebens zeigt sich auch in der Single Lungs (****) als erstem Vorgeschmack auf die Platte. „History again / teach me like a friend / what you know and why / I cannot refuse / your place, your house, your rules“, singt Stella Donnelly darin am Ende. „Ich liebe es, die menschliche Dynamik zu beobachten. Die Dynamik zwischen alten besten Freunden, die Dynamik zwischen Mitbewohnern oder in einer Beziehung, in der zwei Menschen getrennt sind und seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben“, sagt sie. „Ich mag es, mich in die Gedanken von jemandem hineinzuversetzen, der/die wir alle schon einmal waren.“ Im Fall von Lungs erzählt sie aus der Sicht eines Kindes, dessen Familie gerade vertrieben wurde. Beat und Bass sorgen dabei für eine erstaunliche Dringlichkeit, die klare Stimme und das lebhafte Klavier für den nötigen Zauber. Für das Video hat Stella Donnelly mit Duncan Wright sowie ihren Kindheitsfreundinnen Billie, Nikki und Stevie Tanner von der Tanner Dance Academy gearbeitet: „Die Figur, die ich in Rot spiele, ist ein wackeliger Erwachsener, der mit seinen neuen Beinen und seiner neuen Verantwortung sein Bestes gibt und versucht, es einfach aussehen zu lassen, aber auf unsicherem Boden steht. Ich wollte, dass dieses Video das Kind feiert, das fest auf seinen Füßen steht, einschüchternd ehrlich ist und mit dem man sich nicht anlegen sollte.“
Schon an ihrem vierten Album arbeitet derzeit Lina Maly, die Wartezeit verkürzt die 25-Jährige nun mit der Quartett EP. Die vier Neuinterpretationen von bereits veröffentlichten Songs, die Streicherarrangements und eine jeweils passgenaue visuelle Umsetzung von Leo Asal und Andreas Dittinger (LOFT ARTS) erhalten haben, kann man als weiteren Beweis für ihre enorme Produktivität sehen: Mehr als 30 Werke unter eigenem Namen, darunter zwei Alben, umfasst ihr Output in den vergangenen drei Jahren. Wenn du mich küsst (***1/2) stammt vom Album Nie zur selben Zeit aus dem vergangenen Jahr und klingt hier in der neuen Version noch wehmütiger, herbstlicher und reifer. Am 9. Juni ist Lina Maly in Leipzig im Täubchenthal zu Gast.
Manchmal findet dann doch zusammen, was zusammen gehört: Built To Spill werden ihr neues Album auf Sub Pop veröffentlichen. Das Label aus Seattle passt perfekt zur 1992 gegründeten Band um Mastermind Doug Martsch, schließlich kann man beide längst als Indie-Institutionen begreifen. Entsprechend froh sind beide Seiten, dass es für When The Wind Forgets Your Name (erscheint am 9. September 2022) erstmals mit einer Zusammenarbeit geklappt hat. Auch für das achte Album seiner Band hat Martsch wieder eine neue Besetzung gewählt, das hat ja Tradition bei Built To Spill. „Ich wollte das Lineup aus vielen Gründen ändern. Jedes Mal, wenn wir eine Platte fertigstellen, möchte ich, dass die nächste Platte völlig anders klingt. Es macht Spaß, mit Leuten zu spielen, die neue Stile und Ideen einbringen. Und es ist schön, in einer Band mit Leuten zu sein, die mich noch nicht satt haben“, sagt Martsch, der das einzig dauerhafte Mitglied ist und die neun Songs des neuen Albums auch selbst produziert hat. Wichtigste Mitstreiter für das neue Werk sind der brasilianische Lo-Fi-Punk-Künstler und Produzent Le Almeida und dessen langjähriger Kompagnon João Casaes. Sie hatten zuvor die Begleitband von Built To Spill bei Auftritten in Brasilien verstärkt und ihren Proberaum in Rio de Janeiro zur Verfügung gestellt, 2019 waren sie dann auch bei Shows in USA und Europa dabei, während parallel die Arbeiten an When The Wind Forgets Your Name liefen. Eigentlich sollte der Nachfolger von Untethered Moon (2016) dann im folgenden Jahr irgendwo in Brasilien oder den USA gemeinsam abgemischt werden, wegen der Reisebeschränkungen durch COVID-19 war das aber nicht möglich. Stattdessen wurden die Stücke per Mail hin- und hergeschickt, bis schließlich alles passte. Die Geschichte zur Vorab-Single Understood (***1/2) reicht allerdings noch viel weiter zurück als bis zum ersten Aufeinandertreffen von Martsch, Le Almeida und Casaes: Der Built-To-Spill-Kopf blickt hier auf das Wesen von Pleiten, Pech und Pannen und hat sich dazu von Evel Knievels missglücktem Sprung über den Grand Canyon inspirieren lassen, der im Jahr 1972 in Martschs Heimatstadt Twin Falls, Idaho, über die Bühne ging. Mit famos holprigen Drums, etwas Jangle und einer klasse Melodie dürfte das auch Sub-Pop-Kollegen wie den Screaming Trees, Damien Jurado oder Pedro The Lion bestens gefallen.
Neue Musik für 2022 hatten Spielbergs ja bereits angekündigt (und zum Teil auch schon veröffentlicht). Jetzt ist auch klar, dass die Norweger dabei auch ein Album-Format als Nachfolger ihres Debüts im Sinn haben. Vestli, benannt nach dem Stadtteil in Oslo, in dem zwei der Bandmitglieder aufgewachsen sind, wird am 19. August erscheinen und sich vor allem mit Zweifeln, Isolation und Angst befassen. „Die Songs auf Vestli handeln alle mehr oder weniger von dem Gefühl, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Kein Entkommen. Du beschäftigst dich mit Problemen in deinem Kopf, mit Bedauern, Scham, Angst, mit dem, was du hättest tun sollen und was du hättest tun können. Kein Ausweg“, erläutert Sänger und Gitarrist Mads Baklien. „Vielleicht gefällt dir nicht, wer du bist oder wer du geworden bist. Du steckst damit fest, du zu sein. Du bist im Alltag mit viel Druck und Lärm konfrontiert, und manchmal möchtest du einfach nur alles hinter dir lassen und irgendwo einen ruhigen Ort finden, um ein neues Leben zu beginnen. Aber das kannst du nicht. Du hast Verpflichtungen und Verantwortung. Du kommst nirgendwo hin. Und jetzt kommt noch dazu, dass die ganze Welt wie ein außer Kontrolle geratenes Flugzeug mit einem Haufen Verrückter am Steuer aussieht. Und es gibt keinen Ausweg.“ Einen prominenten Ausblick auf die Platte gibt When They Come For Me (***1/2), Teil einer Doppel-A-Seite mit Get Lost. Zwar gibt es hier eine Ruhepause inmitten eines ebenso energischen wie eingängigen Gitarren-Feuerwerks, aber letztlich kein Entkommen und schon gar kein Erbarmen. Die Songtitel unterstreichen, dass es hier ebenfalls um Zwänge und Neurosen geht, Mads Baklien führt das noch etwas aus: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich kurz davor stehe, verrückt zu werden. Es ist, als würde ich mich in dem, was ich tue und sage, nicht wiedererkennen. Und manchmal habe kommt das erschwerende Gefühl dazu, dass eines Tages unweigerlich alles zusammenbrechen wird.“