Keine Konzerte, keine DJ-Gigs, kaum Möglichkeiten, sich sonst irgendwie unter Leute zu begeben: Diese durch Corona verursachte Zwangspause haben Hot Chip ziemlich clever genutzt. Im Osten von London haben sie sich unter Federführung von Gitarrist Al Doyle ein neues Studio gebaut, dem sie den Namen „Relax & Enjoy“ gegeben haben. Die technischen Möglichkeiten und die angenehme Atmosphäre dort war sehr wichtig für die Entstehung des neuen Albums Freakout/Release, das in einer Woche erscheinen wird. Den Titelsong (****) veröffentlicht die Band nun als den bereits dritten Vorboten für das achte Studioalbum das Quintetts. Sowohl im Sound als auch in der Botschaft ist die neue Single typisch für Freakout/Release. „I need an escape and some primitive healing / (…) / make a sound and throw the shapes“, singt Alexis Taylor über die Sehnsucht nach ein bisschen Eskapismus, am besten mittels Musik als der natürlichen Ausdrucksform dieser Band, die Anfang Oktober auch für zwei Auftritte nach Deutschland kommen wird. Umgesetzt wird das mit einem erstaunlich rockigen Arrangement mit verzerrter Vocoder-Stimme, wildem Beat und aggressiver Gitarre („Das Riff sollte sich brutal, düster und extrem anfühlen, und Joe dachte an Seven Nation Army und die Einfachheit, mit der es zwischen leise und laut hin und her pendelt“, sagt Alexis Taylor). „Es geht um aufgestaute Energie und das Bedürfnis nach Befreiung und Flucht. Es geht auch darum, der Musik einen Sinn zu geben. Und darum, dass man manchmal genervt ist von der Sache, auf die man sich konzentriert“, sagt Taylor über den Track. „Die Musik verlässt meinen Kopf keine Sekunde lang, was normalerweise ein gutes Gefühl ist. Aber manchmal kann es sich auch klaustrophobisch anfühlen. Es geht auch darum, seinen Platz in Bezug auf die Musik und die Performance zu finden.“ Wer das erstaunlich reflektiert findet für einen Act, der sonst gerne als notorisch heiterer Dancefloor-Filler wahrgenommen wird, kann auf dem neuen Album noch mehr Tiefgang finden, auch ausgelöst von den Erfahrungen mit der Pandemie und anderen gesellschaftlichen Herausforderungen. Joe Goddard verrät: „Wir leben in einer Zeit, in der man leicht das Gefühl hat, dass die Menschen auf verschiedene Weise die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Es gibt eine Dunkelheit, die sich durch viele dieser Tracks zieht.“
„Jetzt zeige ich euch mal, was wirklich in mir steckt / eine ganz andere Seite von mir / dass ich ein viel besserer Komponist bin als die anderen in unserer Gruppe, die immer unverdient im Rampenlicht stehen.“ Das sind oft die unterschwelligen Botschaften, wenn jemand sein erstes Soloalbum herausbringt. Oft haben diese Werke dann auch einen entsprechend plakativen Titel. Bei Will Sheff, seit 1998 und neun Alben bekannt als Frontmann von Okkervil River aus Austin, Texas, ist das anders. Sein am 7. Oktober erscheinendes Solodebüt hat er Nothing Special genannt. Das ist natürlich charmantes Understatement, hat aber noch eine zweite Bedeutung: Der Titel bezieht sich auch darauf, dass das Leben als Musiker, mit Konzerten, Studioarbeit, Fans und Tourneen irgendwann normal wird. Neben dieser Erkenntnis hat sein Umzug nach Los Angeles mit der Landschaft im Süden Kaliforniens die neuen Songs inspiriert, auch die Texte von King Crimson, Joni Mitchell oder Bill Fay nennt Will Sheff als wichtigen Einfluss. Nicht zuletzt hat der Tod des früheren Okkervil-River-Schlagzeugers Travis Nelsen im April 2020 deutliche Spuren hinterlassen. „Ich denke, ein großer Teil von Nothing Special dreht sich um die Trauer um ihn, die Trauer um alles, was meine Freunde verloren haben, die Trauer um den Mythos des Rock’N’Roll und den Versuch, meine Augen für eine transzendentere Realität zu öffnen“, sagt Will Sheff. Die Single Estrangement Zone (***) handelt passenderweise vom Niedergang einer Gesellschaft und klingt dabei seltsam modern. Die Eleganz von Bryan Ferry kann man darin ebenso erkennen wie den Wagemut von David Bowie und eine analoge Sehnsucht, wie sie Alex Cameron auch gerne auslebt. Der Künstler sieht darin „eine Parabel über Ende und Anfang, die gleichzeitig stattfinden“, was angesichts der Tatsache, dass Okkervil River seit vier Jahren kein Album mehr gemacht haben, vielleicht ja auch auf seine Solokarriere bezogen ist.
Auch Two Door Cinema Club üben sich in der neuen Single Lucky (****) in Demut. „I’m a lucky man / I never saw this side of the plan“, lauten die ersten Zeilen. Die drei Nordiren verweisen damit sehr zutreffend darauf, wie oft wir einfach nur Glück haben bei Dingen, die wir uns als Verdienst anrechnen. Der sehr witzige Clip zeigt das mit Alltagssituationen, in denen ein Mann diversen Missgeschicken und Gefahren aus dem Weg geht, ohne etwas dafür zu können oder von seinem Dasein als unverschämter Glückspilz auch nur etwas zu ahnen. Natürlich bezieht sich das auch auf das Musikgeschäft, wo man neben Talent eben auch entsprechendes Glück und Timing braucht, um erfolgreich zu werden oder auch nur einen Plattenvertrag zu ergattern (Branchenexperte Shaun Letang beziffert die Chance dafür in diesem Beitrag auf 0,01 Prozent). Und man darf wohl annehmen, dass Alex Trimble, Kevin Baird und Sam Halliday damit auch ein paar Kritiker*innen den Wind aus den Segeln nehmen wollen, die in ihnen ausschließlich ein leichtgewichtiges Gute-Laune-Indie-Trio sehen wollen. Wie wenig das zutrifft, kann auch auf dem neuen Album Keep On Smiling nachprüfen, das am 2. September digital und am 4. November physisch erscheint.
Dass die drei Nordiren in der Kategorie „tanzbare, positive, hymnische Indiesongs“ ausgerechnet von Jamie Lenman demnächst Konkurrenz bekommen könnten, hätte wohl kaum jemand erwartet. Aber der Musiker, der als Frontmann von Reuben noch für Post-Hardcore stand, hat sich auf seinem neuen Solowerk explizit einem zugänglicheren Sound verschrieben. „Ich habe schon lange versucht, etwas Melodischeres zu machen und Talk Hard ist die erste Blüte dieses Vorhabens“, sagt Lenman über seine neue Single (****), die vielleicht nicht gleich die bonbonfarbene Luftigkeit von Two Door Cinema Club hat, aber beispielsweise wunderbar zu Biffy Clyro oder Frank Turner passen würde. „Textlich geht es darum, für sich selbst einzustehen und dafür zu sorgen, dass deine Stimme von Leuten gehört wird, von denen du eigentlich das Gefühl hast, dass sie dich ignorieren. Seien es deine Freunde, deine Familie, dein Chef oder sogar die Regierung. Es geht darum, Menschen zu ermutigen und zu bestärken, hinter ihnen zu stehen und sie zu unterstützen. Ziemlich positiv nach all den negativen Gefühlen auf King Of Clubs„, sagt er. Durch die Handclaps, die eingängige Sologitarre, den Harmoniegesang und den metallischen Bass-Sound wird noch eine andere Referenz heraufbeschworen, die dem 39-Jährigen durchaus gefällt: „Die Leute sagen mir, dass sie Einflüsse von Weezer darin hören können, was großartig ist. Sie waren immer meine Helden, besonders die ersten beiden Alben.“
Zum Schluss noch etwas lobenswerte Charity: Unter dem Titel Seenotrettung ist kein Verbrechen erscheint am 23. September eine Benefiz-Compilation zugunsten von Sea Punks. Die beiden Plattenfirmen Unter Schafen Records (Köln) und Grand Hotel van Cleef (Hamburg) unterstützen damit den 2019 von den Brüdern Benjamin, Raphael und Gerson gegründeten Verein Sea Punks e.V., der ein Seenotrettungsschiff gekauft hat, das im September erstmals im Mittelmeer im Einsatz sein soll, wozu allerdings noch weitere Spenden notwendig sind. Der Sampler enthält 24 Tracks, vertreten sind unter anderem Die Ärzte, Tocotronic, Kettcar, Danger Dan, Thees Uhlmann, Deichkind, Bosse, Giant Rooks, Faber und Die Toten Hosen. Seenotrettung ist kein Verbrechen erscheint digital sowie als Doppel-LP und Doppel-CD, sowie als limitierte 2xLP, die eine Bonus-Single mit Songs von Akne Kid Joe und Die Nerven enthält, ab heute kann man die Compilation im Vorverkauf erwerben und dabei auf Wunsch auch einen Soli-Beitrag zahlen, also eine zusätzliche Spende für Sea Punks e.V. Alle Künstler*innen und Bands haben ihre Songs kostenfrei zur Verfügung gestellt. Mit dabei ist auch Kummer feat. Fred Rabe mit Der letzte Song (****). Der Song-Untertitel Alles wird gut darf natürlich gerne wahr werden für alle Menschen auf der Flucht.