Wohl selten hat sich ein so prominenter Sänger zum Kopf eines Projekts gemacht, das letztlich eine Revival-Band ist: In mehr als 200 Shows hat Jan Plewka nun schon live die Lieder von Rio Reiser und Ton Steine Scherben gespielt, meistens mit seiner Stammband, der Schwarz-Roten Heilsarmee. „Mit 14 Jahren habe ich Ton Steine Scherben zum ersten Mal gehört. Seitdem bin ich ein glühender Verehrer von Rio Reiser, von seiner Musik, seiner Poesie, seinen Utopien. Seit über 15 Jahren bin ich mit diesem Programm nun schon auf Tour. Das ist die eine Konstante in meinem Leben“, sagt er selbst. Man darf wohl auch sagen: Selten hat eine Konstellation so gut gepasst wie die des leicht hedonistisch-kaputten, vor allem aber zutiefst poetisch-romantischen Frontmanns von Selig als Interpret dieser Lieder, die der 1996 verstorbene Rio Reiser nicht mehr selbst singen kann. „Ich versuche nicht, den Rio zu spielen“, betont er allerdings. „Ich übernehme den Charakter eines Liedes und singe es als Jan Plewka. Ich muss die Geschichte dahinter annehmen und sie zu meiner eigenen machen.“
Zum zweiten Mal gibt es mit Wann wenn nicht jetzt – Jan Plewka singt Rio Reiser und Ton Steine Scherben II (Live) dieses Konzept nun auch als Tonträger, dafür wurde 2019 eine Show im Hamburger Kampnagel aufgezeichnet. Das Ergebnis wird am 3. September als Doppel-LP und Doppel-CD (jeweils mit 17 Livetracks) sowie als DVD (mit fünf weiteren Stücken) veröffentlicht. „Nachdem sich der erste Teil in erster Linie um die Liebeslieder drehte, die Reiser geschrieben hat, behandelt dieses zweite Programm vor allem die politische Seite Reisers und von Ton Steine Scherben“, sagt Marco Schmedtje, Gitarrist der Schwarz-Roten Heilsarmee und zugleich Produzent der Platte. „Wir haben bei der Bearbeitung gemerkt, dass die Songs von früher auch heute noch so aktuell sind – und dass gerade von den politischen Aussagen viele unheimlich gut in die aktuelle Zeit passen. Darum auch der Titel Wann, wenn nicht jetzt.“ Das hört man auch in der Single Macht kaputt was euch kaputt macht (***1/2), die nicht nur neue Themen wie AfD und Amazon in den Text einbaut, sondern auch überzeugt und kraftvoll klingt, bis hin zu einer durch die atonalen Passagen zumindest angedeuteten Radikalität. Man muss vorsichtig sein mit solchen Einschätzungen, aber die Wahrscheinlichkeit scheint nicht gering, dass Rio Reiser das gemocht hätte.
It’s Nice To Be Nice (****) heißt die neue Single von Colleen Green, zugleich der zweite Vorbote für ihr anstehendes Album Cool. Der Song erinnert an die Prinzipien von Karma und soll wohl vor allem auch sie selbst dazu ermahnen, auch dann freundlich zu bleiben, wenn es ihr gerade nicht so gut geht, was mit einem sehr trockenen Rocksound und einer erstaunlich niedlichen Gesangsmelodie umgesetzt wird. „Dieser Song ist mein You Get What You Give von den New Radicals, aber ohne das unpassende aggressive Gefühl, anderen Rockstars in den Arsch zu treten“, sagt sie und verrät zudem, dass sie sich beim Videodreh auf einem Boot vor der Küste ihrer Heimatstadt Los Angeles einen schmerzhaften Sonnenbrand zugezogen hat. In L. A. gab es auch ihr erstes Aufeinandertreffen mit Produzent Gordon Raphael (The Strokes), der sie dort live erlebt hat. „Ich war beeindruckt, wie selbstbewusst und stark sie aussah, obwohl sie ganz alleine da oben stand“, sagt er. Sein Einfluss ist im Song gut zu erkennen, zudem hat Colleen Green für ihr erstes Album seit 2015 auch auf die Mitwirkung von Rap-Produzent Aqua gesetzt. Da darf man gespannt sein.
Die Musik von Saint Etienne klingt ja immer ein wenig, als würde diese Band in den Wolken leben und sich von Gänseblümchen ernähren. Tatsächlich ist das Trio aus London aber zuverlässig produktiv, mit I’ve Been Trying To Tell You kommt am 10. September ihr zehntes Studioalbum heraus, begleitet von einem Film, für den Modefotograf Alasdair McLellan die Regie geführt hat. An den acht neuen Songs haben Saint Etienne erstmals getrennt voneinander an verschiedenen Orten gearbeitet und dabei – wie zuletzt bei So Tough (1993) – vor allem auf Samples gesetzt, und zwar aus der Zeit um das Jahr 2000 herum. „Es geht um die späten Neunziger und die Nostalgie nach dieser Zeit, die man momentan beobachten kann“, erklärt Bob Stanley. Sängerin Sarah Cracknell beschreibt die neue Platte als „verträumte und atmosphärische Spätsommerklänge“, und passend dazu gibt es im Video zum ersten Vorgeschmack Pond House (***) reichlich Sonnenbrillen, Strand und freie Oberkörper. Der Track wirkt zunächst etwas schleppend, entwickelt dann aber spätestens nach dem Dub-inspirierten Break eine hypnotische Kraft. „Wir haben die Samples wirklich auseinandergenommen und sind tief in sie eingetaucht“, sagt Pete Wiggs. „Das Konzept und jede unserer Interpretationen davon haben dieses Album zu etwas ganz Besonderem gemacht, und wir hoffen, dass ihr auch so denkt.“
Auch Dream Nails haben den Sommer in Sinn. Mit der neuen Single Take Up Space (****1/2) wollen sie ermutigen, sich draußen zu zeigen – und natürlich richtet sich dieser Aufruf bei ihnen vor allem an alle, die nicht der Heteronormativität entsprechen. Schlagzeugerin Lucy Katz nennt den Song „einen Surfpunk-Banger, der Girls, Gays & Theys ermutigt, sich diesen Sommer ihren Raum zu nehmen“. Erstmals ist auf dem im Juli mit Produzent Tarek Musa (Spring King / Dead Nature) aufgenommenen Song, der mit famosem Bass und kurzem Tarantino-Ausflug ebenso gewitzt wie kraftvoll ist, die neue Sängerin Leah Kirby im Einsatz. Sie sagt: „Der Song ist ein wahrer Bop, der gleichzeitig aber die Ungerechtigkeit in den von Cis-Männern dominierten Räumen aufzeigt. Es ist eine Hymne für alle, die von der patriarchalen Unterdrückung betroffen sind und ein Aufruf an uns, unsere Körper zurückzufordern und die Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Wir wollen ohne Angst leben, wir wollen frei sein!“ Bassistin Mimi Jasson liebt vor allem die Zeile „I would hitchhike to the coast / coasting along, travelling alone“, erklärt sie, „weil ich genau das tun würde, wenn ich keine Angst mehr hätte. Ich liebe diesen Song, weil er wirklich eine bessere, fröhlichere Welt heraufbeschwört, in der Frauen und LGBTQ+-Menschen angstfrei ihren Platz einnehmen könnten“. Die Reiselust wollen Dream Nails im Herbst auch wieder auf Tour in Großbritannien ausleben, und bei den Konzerten kann man sicher dasselbe erleben wie in Take Up Space: Bei dieser Band wird das „Power“ in „Empowerment“ besonders groß geschrieben.
Im Wörterbuch der klinischen Psychologie findet sich der Madonna Whore Komplex (noch) nicht, dafür aber demnächst im Plattenladen, denn diesen schönen Titel wird das Debütalbum von Alli Neumann haben, das am 3. September erscheint. Der Titelsong (****) als Single ist schon jetzt draußen. Dass der Weg dahin durchaus steinig war, hört man dem Lied ebenso an wie Zitaten von Alli Neumann à la „Wenn das Leben böse ist, muss die Musik halt gut sein.“ Das ist sie bei ihr in jedem Fall, es geht um Erwartungshaltung, sexistisch geprägte Rollenbilder und die Emanzipation daraus. Der Sound ist entsprechend kantig, die Stimme einzigartig und das sehr sehenswerte One-Shot-Video dazu hat Kim Frank (ehemals Echt) gemacht.