Futter für die Ohren mit Phoenix, EUT, Melody’s Echo Chamber, Wet Leg, Nina Persson und James Yorkston & The Second Hand Orchestra

Phoenix Tonight Review
Phoenix, möglicherweise auf dem Dach eines Museums. Foto: Check Your Head / Shervin Lainez

Wer in München aufwächst, verachtet als Teenager (hoffentlich) Bier und Trachten. Die portugiesischen Kids an der Atlantikküste von Ericeira entwickeln in der Pubertät mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gehörige Abneigung gegen Surfen. Und wer in Versailles aufwächst, hat wohl als junger Mensch den unbedingten Drang, gegen die französische Hochkultur zu rebellieren. Bei Phoenix war das nachweislich so. Sänger Thomas Mars hat in einem Interview einmal von „dieser großbürgerlichen Einsamkeit und dem abgestumpften Lifestyle“ in seinem Heimatort gesprochen, und man kann sich als Teenager wohl tatsächlich Schöneres vorstellen, als mehr oder weniger in einem Museum des 17. Jahrhunderts aufzuwachsen, das permanent von Tourist*innen überschwemmt wird. Mittlerweile scheint die Band aber ihren Frieden mit der französischen (Kunst-)Geschichte gemacht zu haben. Denn ihr neues Album Alpha Zulu, das am 4. November erscheinen wird, haben Mars, Christian Mazzalai (Gitarre), Laurent „Branco“ Brancowitz (Gitarre, Keyboard) und Deck d’Arcy (Bass, Keyboard) im Pariser Musée des Arts Décoratifs inmitten des Palais du Louvre aufgenommen. „Wir konnten in der Pandemie das Szenario erleben, allein in einem leeren Museum zu sein“, schwärmt Brancowitz über diese seltene Gelegenheit, während Christian Mazzalai die Wiedersehensfreude nach dem Lockdown betont, wodurch die Band „fast wie in Trance“ zusammen musiziert habe. Erstmals haben Phoenix das Album auch selbst produziert, und nimmt man die Vorab-Single Tonight (****) zum Maßstab, dann waren die Begleitumstände in der Tat sehr inspirierend. Ein schöner Bass ist das Kernstück des Songs, dazu kommen Leichtigkeit und Verspieltheit in Melodie und Rhythmus sowie die unnachahmlich hoffnungsvolle Stimmung, die der Gesang von Thomas Mars stets zu evozieren weiß. Als Verstärkung haben sich die Franzosen hier Ezra Koenig von Vampire Weekend dazugeholt, und im Video wird die transatlantische Freundschaft auch gleich kreativ in Szene gesetzt.

Ihre Landsfrau Melody Prochet alias Melody’s Echo Chamber hat vor zehn Jahren mit ihrem Debütalbum dazu beigetragen, den Mix aus verträumt und durchgeknallt wieder en vogue zu machen. Zum Jubiläum ist die Platte, die damals mit Kevin Parker von Tame Impala in Perth aufgenommen wurde, am 30. September in einer Neuauflage erschienen. Prochet belässt es allerdings nicht bei dieser 10th Anniversary Edition, sondern veröffentlicht unter dem Titel Unfold erstmals auch sieben Tracks, die 2013 ebenfalls Ergebnis einer Zusammenarbeit mit Parker und ursprünglich für den Nachfolger von Melody’s Echo Chamber geplant waren. „Das Album war zu fünfzig Prozent fertig, und dann hat die Beziehung den Prozess einfach nicht überstanden“, erzählt sie. „Ich habe dann ein paar Jahre lang versucht, alleine daran zu arbeiten, bis ich merkte, dass ich mir damit nur selbst schade.“ Als sie besonders frustriert war, wollte sie sogar das gesamte damals entstandene Material löschen, erst jetzt sind ein paar der Songs wieder aufgetaucht. Unfold (***) zeigt, wie ärgerlich ein Autodafé gewesen wäre: Mit hoher Stimme, verwaschener Gitarre und hochinteressante Drums ist das genau das, was Fans an Melody’s Echo Chamber lieben, und was sie dann 2018 auf Bon Voyage und zuletzt auch auf dem Album Emotional Eternal wieder finden konnten.

Auch Wet Leg haben in gewisser Weise im Archiv gestöbert. Schließlich ist die Nachfrage nach neuen Songs riesig, seit die Debütsingle Chaise Longue mehr als 150 Millionen Streams erreicht und ihr Nummer-1-Album mehr als 250.000 Exemplare verkauft hat. Gemeinsam mit James Ford haben Rhian Teasdale und Hester Chambers nun zwei Songs für Spotify Singles aufgenommen. Der erste ist Daisy (****), eine Coverversion von Ashnikko. Sie hörten das Original oft, als sie gerade erst anfingen, gemeinsam Songs zu schreiben, erzählt Hester Chambers: „Rhian hatte mir von diesem Künstler erzählt, den sie viel hörte. Sie sang und spielte Daisy auf der Gitarre, während wir morgens Kaffee tranken. Es fühlt sich an wie ein weiterer kleiner Kreis, der sich in unserer Wet-Leg-Welt schließt, dass wir nun dieses Cover machen durften.“ Ihre Version ist enorm cool, die Orgel und die Männerstimme im Backgroundgesang wirken geheimnisvoll und bedrohlich, die Drums haben noch viel mehr Krawall im Sinn, als man hier zunächst ohnehin schon wahrnimmt. Das zweite Lied aus den Sessions ist eine Neubearbeitung des Albumtracks Convincing, der zuletzt in der Wahrnehmung von Wet Leg eine besondere Entwicklung genommen hat. „Seitdem wir wieder live spielen, spielen wir einige Tracks so, wie sie aufgenommen wurden, aber Convincing ist einer der Songs, der sich im Laufe der Zeit ein wenig verändert hat. Diese Version, die wir mit James aufgenommen haben, lehnt sich an die sanftere und wummernde Welt an, die es in unseren Live-Sets gibt“, sagt Hester Chambers.

The Great White Sea Eagle wird das neue Album von James Yorkston und dem Second Hand Orchestra heißen, das am 13. Januar erscheint. Anders als beim 2021er Vorgänger The Wide, Wide River hat Yorkston die meisten Songs auf dem Klavier statt auf der Gitarre geschrieben. Die noch größere Veränderung ist allerdings die Mitwirkung von Cardigans-Sängerin Nina Persson. Wie gut das passt, zeigt Hold Out For Love (***1/2) als erste Kostprobe aus dem Album. Das Lied nutzt unter anderem Klarinette und Geige für seinen tollen Spannungsbogen, in den Schatten gestellt wird all das allerdings von dem ungewöhnlich freigeistigen Harmoniegesang. Eine Konstante gab es indes auch: Wie zuvor bei The Second Hand Orchestra kannten nur James Yorkston, Nina Persson und Bandleader Karl-Jonas Winqvist die Kompositionen, als es ins Studio ging. Die Arrangements mit den weiteren Musiker*innen wurden dann dort improvisiert. „Jeder, der im Second Hand Orchestra mitspielte, ist auf seine Weise einzigartig und bunt. Es gab niemanden, der nicht wusste, was er zu tun hatte. Ich brachte ihnen die Songs, wir fingen mit einem an – ich spielte ihn, und beim zweiten Mal fingen die Leute an zu singen und zu spielen, und wenn wir das drei- oder viermal gemacht hatten, drückten wir auf die Aufnahmetaste, und wir waren bereit, loszulegen“, beschreibt Yorkston diese Methode. „Was sie alle hatten, war die Fähigkeit, sich gegenseitig Raum zu geben und ihre Parts auf der Grundlage dessen, was die anderen spielten, zu entwickeln, was natürlich ein sehr schneller Prozess war, und sie waren alle so offen, niemand war egoistisch. Alles war einfach glücklich. Ich liebe die Wildheit darin.“

Mit intuitivem Zusammenspiel dürften sch auch Jan Plewka und Marco Schmedtje auskennen, schließlich musizieren sie seit fast zwanzig Jahren zusammen. Von 2003 bis 2005 waren sie in der gemeinsamen Band Zinoba aktiv, auch bei „Jan Plewka singt Rio Reiser“ und der Reihe des Selig-Sängers mit Coverversionen von Simon & Garfunkel ist Schmedtje an Bord. Auf Tour entwickelten die beiden zuletzt das Konzept „Between The Bars“, bei dem sie Songs aus dem Katalog von Zinoba, Lieder von ihren jeweiligen Soloalben und Coverversionen spielen. Letzteres haben sie jetzt auf ein Albumformat ausgedehnt, Between The 80s wird am 25. November erscheinen. Als erste Single gibt es den einstigen Alphaville-Hit Forever Young, der in ihrer Version (***1/2) erstaunlich zart, herb und ganz und gar wünderhübsch klingt.

Etwas nachdenklicher als bisher zeigen sich nach eigener Auskunft auch EUT auf ihrem neuen Album. Das erstmals selbst produzierte Werk der Band aus Amsterdam wird Be My Reactor heißen und kommt am 10. März 2023 heraus. Bereits jetzt erscheint die erste Single Step By Step (***1/2). Das Lied hat in der Tat eine erstaunliche Schwere, auch wenn der Refrain strahlend bleibt und Sängerin Megan de Klerk beweist, dass sie nicht nur für Party Time (so der Titel des 2021er Albums) geeignet ist. „Wir haben alle möglichen Synthesizer gekauft und versucht, mir beizubringen, wie man Songs auf eine andere Art schreibt. Deshalb klingt diese Platte auch so anders, weil wir von all diesen neuen Instrumenten gefesselt waren“, sagt Gitarrist/Produzent Emiel de Nennie. „Megan und ich haben die Vorarbeit zu Hause geleistet und mit der Band in unserem Proberaum aufgenommen, anstatt ein teures Studio und einen Produzenten zu engagieren.“ Das scheint eine gute Investition gewesen zu sein.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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