Noch nie war es so einfach, gut informiert zu sein wie heute. Das Web bietet unzählige Möglichkeiten, oft immer noch kostenlos, aus den unterschiedlichsten Perspektiven und aus aller Herren Länder. Und was machen die Menschen aus dieser Möglichkeit? Sie nutzen lieber Pornos, Katzenvideos und Schminktipps. Man könnte jetzt behaupten, Corona sei am fehlenden Nachrichteninteresse schuld. Oder – wie so oft – die jungen Leute heutzutage für das Phänomen verantwortlich machen, das mittlerweile den Namen „news fatigue“ bekommen hat. Allerdings hat der Trend zum zunehmenden Desinteresse am Weltgeschehen bereits 2017 eingesetzt, und zwar in allen Altersgruppen. Laut „Reuters Institute Digital News Report 2022“ interessieren sich nur noch 52 Prozent der Internetnutzer*innen in Deutschland für Nachrichten. Wie nachvollziehbar der Impuls ist, von all den Krisen und Katastrophen da draußen nichts mehr hören und sehen zu wollen, und wie erstaunlich unsere Fähigkeit ist, uns selbst trotz all dieser Hiobsbotschaften so etwas wie ein Gefühl von Normalität vorzugaukeln, besingen Provinz in ihrer heute erscheinenden Single Draußen ist Krieg (***1/2). Ausgangspunkt des Lieds war die Zeit unmittelbar nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Vincent Waizenegger, Sänger des 2017 gegründeten und in Hamburg lebenden Quartetts, war erschüttert von den Nachrichten, ging kurz darauf aber trotzdem ins Fitnessstudio: „Es war komisch zu sehen, dass die Leute einfach weitermachen – und ich auch. Manchmal scheint es die einzige Möglichkeit zu sein, Scheuklappen aufzuziehen und sich blind zu stellen. Genau die wollen wir mit dem Song wegreißen und den Leuten vor Augen führen, wie leicht es ist, sich ablenken zu lassen, und wie gefährlich das sein kann“, sagt er. Schließlich gilt: „Kopf in Wolken, Kopf in Sand / So hat es schon mal angefangen.“ Als Verstärung haben sich Provinz dabei den Berliner Rapper $oho Bani geholt. Die Strophe ist vergleichsweise sanft und zeigt so den Wunsch nach Eskapismus und Harmonie, im Rhythmus steckt hingegen das Gefühl von Eskalation und Bedrohung. Geprägt wird Draußen ist Krieg von einer Piano-Figur, die genauso nahe an House wie an Feel von Robbie Williams ist, auch das trägt zum Gedanken bei, der im Kern des Songs steckt, nämlich der Angst vor „einer Zukunft, die man gar nicht so richtig erleben will“, wie Vincent Waizenegger sagt.
Eine ganz ähnliche Ambivalenz beschreibt Maxi Haug alias Shitney Beers in Lachrymal Glands (***1/2), der zweiten Vorab-Single des am 13. Dezember erscheinenden Albums Amity Island. Es geht in diesem Song um die wiederholt erlebte Situation, „in der ich einerseits nichts mit meinem Leben anfange, und in der Hinsicht zu abgestumpft bin, als dass mich das tangiert. Und andererseits bin ich unzufrieden mit der Art und Weise, mit der die Welt vor sich hinvegetiert, und ich möchte, dass sich etwas ändert. Ich bin oft zu ängstlich, um wirklich was zu tun und im Umkehrschluss wieder zu ambitionslos, weil es sich oft so anfühlt, als würde es sich eh nicht lohnen“, sagt die Sängerin. Auch hier wird der Gegensatz wunderbar in den Sound überführt: Das Folk-Picking sorgt für eine Atmosphäre voller Wärme und Gemütlichkeit, die auch im Text zur Sprache kommt. Die Störfaktoren als Repräsentanten des Wissens um den Selbstbetrug sind hier das Cello und die E-Gitarre, zusammengefasst wird das alles in den schlichten wir wahren Versen: „I’m so angry / I want to make a change / but I’m scared / of so many little things.“
Ehrlich zu sich selbst sein, sensibel für die Umgebung und (was vielleicht zwangsläufig ist bei dieser Kombination) latent melancholisch – das passt auch wunderbar zu Autumn (***1/2), der neuen Single von Sweed. Er hat das typische Herbstgefühl in Töne gepackt. Das Lied ist mellow und etwas müde, vor allem aber geprägt von Wehmut angesichts des Ende der Leichtigkeit des Sommers, die im Video nach einmal rekapituliert wird. Wie viel Souveränität Sweed mittlerweile hat, wird dabei wunderbar deutlich: Aus einer ziemlich kleinen Idee macht er einen enorm stilsicheren Song.
Sehr feinfühlig und leicht betrübt zeigt sich auch BRKN in diesen Tagen, seine Ende November beginnende Tour trägt gar den Titel „Den Tränen nah“. Die dazugehörige EP heißt Tränen und erscheint am 22. November, entstanden ist sie unter anderem mit Unterstützung von Jakepot und Tommy Gun. „Ich habe mich bewusst darauf eingelassen, mit anderen Leuten zusammenzuarbeiten, die mir geholfen haben, Dinge umzusetzen, die ich allein nicht geschafft hätte. Dadurch ist eine Bandbreite an Songs entstanden, die früher vielleicht nie das Licht der Welt erblickt hätten“, sagt der 1991 geborene Berliner. Die erste Kostprobe ist Angst (****), das musikalisch genauso abwechslungsreich ist wie es textlich tief und aufrichtig wird. Der Bogen reicht hier vom Aufwachsen in die Zukunft, von Liebeskummer bis Beistand, von der Lust auf Statussymbole bis zum Wissen um die eigene Vergänglichkeit. Wenn auf der Tour von BRKN wirklich Tränen fließen sollten, dann werden das wohl Tränen der Rührung und des Sich-Verstanden-Fühlens sein.
Was bei den nächsten Shows von Deine Cousine zu erwarten ist, macht Allez, Allez (***) ebenso deutlich: Die neue Single ist ein Live-Banger mit eingängigem Riff und plakativem „Ohoho“-Chor. Auch der Text feiert die Euphorie inmitten von Menschenmengen, die Intensität und Kraft, die durch Gemeinsamkeit entstehen kann. Zum Jahresende wird Ina Bredehorn mit ihrer Band zwei große „Familienfeier“-Events in Hamburg spielen, vor jeweils 3000 Fans, ab März geht es dann auf reguläre Tour. Im Mai 2025 erscheint das dritte Album von Deine Cousine. Bredehorn: „Allez, Allez öffnet ein neues Kapitel für mich: Wir haben ein Album gemacht, das so bunt und unterschiedlich ist, wie die Welt da draußen. Wer das nicht versteht, tut mir leid.“