Für eine Band, die sich nach einem Computerbegriff benannt und sich im Internet kennengelernt hat, beweisen The Screenshots erstaunlich wenig Talent für Google-taugliche Albumtitel. Ihr Debüt 2 Millionen Umsatz mit einer einfachen Idee (2020) dürfte bei einer Suche wohl eher auf die Websites von dubiosen Coaches und FinTech-Influencer*innen führen. Recherchiert man online nach Wunderwerk Mensch (so wird ihr neues Werk heißen, das am 13. Oktober erscheint), landet man zuerst bei einer preisgekrönten, achtteiligen BBC-Serie, die 25 Jahre alt ist und im englischen Original noch Intimate Universe: The Human Body hieß. Immerhin: Diese Serie erreichte damals einen Marktanteil 38 Prozent, womöglich ist der Titel also doch geeignet, um nach dem Überraschungserfolg des Debüts, das auf Platz 45 der deutschen Charts landete, noch mehr zu erreichen. Schließlich haben sich The Screenshots noch weiter vernetzt, und zwar nicht nur als Band (unter anderem mit Shows im Vorprogramm bei Von wegen Lisbeth, Madsen und den Sportfreunden Stiller), sondern auch einzeln: Dax Werner hat sich als Unterstützer von Mission Lifeline profiliert, denen er seinen Twitter-Account mit 60.000 Follower*innen übertragen hat. Kurt Prödel ist als Podcaster und im Studio Schmitt bei ZDFneo aktiv und hat zwei Solo-EPs veröffentlicht. Susi Bumms hat mit ihren Zeichnungen zuletzt einen Kalender bereichert. Als Trio haben sie innerhalb von zwei Jahren mit Produzent Nicolas Epe (Albrecht Schrader, Friedemann Weise) neues Material für Wunderwerk Mensch erschaffen. Erste Kostprobe ist die Single Rockstar wie Chad Kroeger (****1/2). Der Song feiert mit Pyro-Video und ordentlich ironischer Selbstüberhöhung den unverhofften eigenen Status und wird ganz nebenbei mit viel Blink-182-Punch und der Screenshots-typischen Schrägheit auch dem Anspruch gerecht, die bisherigen Fans abzuholen und vielleicht gar neue zu gewinnen. Im Herbst ist die Band aus Köln auf Tour, und um den Lebensraum für das Wunderwerk Mensch zu schützen, bringen sie die neue Platte auf recyceltem Vinyl heraus – jedes Exemplar wird dabei anders aussehen, weil bei der Verarbeitung des wiederverwendeten Kunststoffs ein einzigartiges Muster entsteht.
Auch Alex G hat ein Schmankerl für seine Vinyl-liebenden Fans in petto. Sein anstehendes Album Live From Union Transfer (kommt am 30. Juni heraus) erscheint in einer limitierten, handnummerierten Auflage von 3500 Stück auf tangerinefarbenem Vinyl. Ähnlich erlesen dürfte die Musik werden, schließlich stammen die meisten Songs des Konzertmitschnitts vom gefeierten 2022er Album God Save The Animals. Zudem war Alex G bei den drei ausverkauften Konzerten im Union Transfer in Philadelphia, die als Grundlage für den Mitschnitt dienen, bestens eingespielt mit seiner langjährigen Liveband, bestehend aus John Heywood (Bass/Gesang), Sam Acchione (Gitarre/Tasten/Gesang), Tom Kelly (Schlagzeug) und Molly Germer (Geige/Tasten/Gesang). Das kann man beispielsweise in dieser Version von Runner (***) erkennen, auch wenn sie nicht in Philadelphia aufgenommen wurde, sondern beim Coachella-Festival. Man sieht, wie entschlossen die Band jede Performance zu etwas Besonderem machen will, und wie sehr Alex G um die Stärke des eigenen Oeuvres weiß. Demnächst sind sie wieder auf der Bühne zu erleben: Im Sommer startet ihre Tour durch Nordamerika, Asien und Europa.
Nach nur zwei Studioalben (statt neun, wie es bei Alex G der Fall ist) bereits eine Liveplatte zu machen, wirkt gewagt. Bei Gerry Cinnamon erscheint der Schritt allerdings logisch, schließlich hat er sich in Eigenregie nicht nur zu einem der größten Bühnenacts seiner Heimat hochgearbeitet (seine letzte Tournee durch das Vereinigte Königreich und Irland lockte insgesamt 350.000 Zuschauer*innen an), sondern zelebriert an jedem einzelnen Abend auf der Bühne auch das Miteinander mit dem Publikum wie kaum jemand sonst. Seine beiden Auftritte im Sommer 2022 (eigentlich sollten sie schon 2019 stattfinden) im Hampden Park in seiner Heimatstadt Glasgow waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft, er ist damit der erste Schotte, der an mehreren Abenden das eigene Nationalstadion füllen konnte. Diese Erfolge, anknüpfend an sein Debütalbum Erratic Cinematic (2017), das inzwischen Platinstatus erreicht hat, und The Bonny, das 2020 die Spitze der UK-Charts erklomm und zum drittbestverkauften britischen Album des Jahres wurde, überraschen kaum, hört man ein Lied wie Kampfire Vampire (****). Gerry Cinnamon wirkt im ersten Moment fast ein bisschen verloren auf dieser riesigen Bühne, alleine mit seiner ollen Schrammelgitarre und einer Mundharmonika, beinahe erschlagen von den tollen Comic-Visuals auf der Mega-Leinwand hinter ihm. Das, was man für zu viel Hall auf seiner Stimme halten kann, erweist sich schnell als der Gesang aus dem Publikum, weiter hinten (und unten) kann man dann doch auch ein paar weitere Musiker ausmachen – und erkennen, wie viel Punch und Leidenschaft in dieser Musik steckt. Kampfire Vampire klingt wie eine ausgestreckte Hand, als Einladung zu einem Abenteuer. Live At Hampden Park wird zudem den bisher unveröffentlichten Song Sacred enthalten, außerdem als weitere Non-Album-Tracks seine Interpretation von I Wish I Was in Glasgow und den Fan-Favoriten Discoland. Gerry Cinnamon selbst hält die Liveplatte übrigens für überfällig: „Diese Lieder sind nicht vollständig, wenn sie nicht live gesungen werden. Die Fans sind ein Teil der Band. Ich wollte das schon seit Jahren machen, aber ich wurde von einem kleinen Wirbelwind aufgehalten. Es war aber klar, dass es in Hampden passieren musste. Album Nummer 3 ist übrigens gerade am Köcheln.“
Speech Debelle kommt demnächst bereits bei ihrem vierten Album an, das Bild vom Köcheln passt für Sunday Dinner On A Monday (erscheint am 9. Juni) aber nicht nur wegen des Titels. Fans wissen: Nach dem Debütalbum Speech Therapy (das 2009 mit dem Mercury Prize als „British Album Of The Year“ ausgezeichnet wurde) und dem ebenfalls umjubelten Freedom Of Speech (2012) machte die als Corynne Elliot geborene Künstlerin eher mit Charity-Aktionen und, jawohl, Kochen auf sich aufmerksam als mit neuer Musik. Sie war etwa Teilnehmerin der TV-Show Celebrity MasterChef, hat ein eigenes Kochbuch verfasst, das parallel zum dritten Album Tantil Before I Breathe veröffentlicht wurde, und produziert den wöchentlichen Podcast The Work Brunch, in dem sie ebenfalls der Schnittmenge aus Essen und Musik nachspürt. Die neue Single Wayward (***1/2) hat laut Speech Debelle zwei parallele Bedeutungen: das Schattenselbst und die männlich-weibliche Energie. Im Clip von Regisseur Aiden Harmitt-Williams trägt sie einen Anzug, „um mich in meiner männlichen Energie zu zeigen und das Weibliche in mir, gespielt von der Tänzerin Rónké Olágúnjú, kennenzulernen und zu unterstützen“. Die Musik dazu klingt genauso vielschichtig, nervös und elegant – und passt letztlich bestens zum Credo von Speech Debelle: Verunsicherung kann eine Stärke sein, wenn man ihr auf den Grund geht und sie so zur Selbsterkenntnis macht.
Kapa Tult aus Leipzig veröffentlichen am 23. Juni ihr Debütalbum Es schmeckt nicht und haben mittlerweile den Moment erreicht, in dem man bei bei jedem weiteren Vorab-Track denkt: Okay, jetzt muss ihr Arsenal an tollen Songs aber mal erschöpft sein, jetzt kommt eine schwächere Single oder auf dem Album wird es dann nur noch Filler geben. Aber auch Handy (***1/2) zeigt, wie mühelos das Quartett seinen bisherigen Qualitätsstandard hält. Im Vergleich zu früheren Tracks ist das Lied eher gebremst, es gibt aber wieder sehr amüsante Details wie die Flöte oder den Chorgesang zur Zeile „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ und nicht zuletzt eine faszinierende Kombination aus Eingängigkeit und Selbstzweifeln. „Warum gehören alle zu den Cool-Kids / und ich steh immer nur daneben?“, lautet die Ausgangsfrage rund um die Suche nach Bestätigung, die am liebsten aus dem Smartphone kommen soll, in Form von Likes für Bilder, flirty Messages oder Einladungen zu den beglückendsten Aktivitäten. Hoffentlich ist spätestens dann, wenn das Album draußen ist, diese wundervolle Band in sehr vielen Playlists auf möglichst vielen Handys zu finden.