The Wombats Oh! The Ocean

Futter für die Ohren mit The Wombats, Turbostaat, Fritzi Ernst, Cary, Christopher Annen und Francesco Wilking

Auf Platz 13 schneidet das Vereinigte Königreich in der jüngsten Pisa-Studie im Bereich Naturwissenschaften ab. Das ist nicht schlecht bei 81 Staaten, die an der Bewertung der Leistungsfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler teilgenommen haben. Die Werte des UK liegen 15 Punkte über dem OECD-Durchschnitt, die Kids aus England, Schottland, Wales und Nordirland rangieren damit auch acht Plätze vor denen aus Deutschland. Man darf also davon ausgehen, dass die meisten von ihnen mit der Tatsache vertraut sind, dass gut 70 Prozent der Oberfläche unseres Planeten mit Wasser bedeckt sind. Matthew „Murph“ Murphy, Frontmann von The Wombats, der auch noch aus der Hafenstadt Liverpool stammt, hatte unlängst während eines Familienurlaubs dennoch ein Erweckungserlebnis beim Anblick des Ozeans. „Ich war im Laufe der Jahre an vielen Stränden, Meeren und Küsten, aber aus irgendeinem Grund fühlte es sich so an, als wäre es das erste Mal, dass ich ihn gesehen habe und der Ozean wirklich präsent war. Es war eine Offenbarung und machte mir klar, dass ich in meinem bisherigen Leben in meinem eigenen Kopf gefangen war, oder eine Art Sturzhelm trug oder mit aufgesetzten Scheuklappen herumlief. Es war wirklich eine starke Erfahrung. Ich hatte das Gefühl, alles zum ersten Mal neu zu sehen, und mir wurde bewusst, dass ich so egoistisch gewesen war, nicht wahrzunehmen, wie verrückt die Welt und das Leben sind. Ich war schon viel zu lange in meinem eigenen Mist gefangen“, sagt der 40-Jährige. Dank dieser Erfahrung trägt das am 21. Februar 2025 erscheinende sechste Album der Band nun den Titel Oh! The Ocean. Murph, Bassist Tord Øverland Knudsen und Schlagzeuger Dan Haggis haben im Sommer in Los Angeles (ja, auch die Wahlheimat des Sängers liegt direkt an der Küste) gemeinsam mit Produzent John Congleton insgesamt 50 neue Lieder innerhalb von sechs Wochen aufgenommen. „Das Album wirft einige introspektive Fragen auf: Warum sind mein Kopf und mein Körper die ganze Zeit voneinander getrennt? Warum bin ich manchmal nicht in der Lage, irgendeine Form von Schönheit in der Welt oder in anderen zu sehen? Warum erwarte ich, dass sich die Welt nach meinem Willen richtet? Warum bleibe ich nie stehen und rieche an den Blumen?“, erzählt Murph. Im Video zur Single Sorry I’m Late, I Didn’t Want To Come (***1/2) fängt Regisseur Logan Fields dieses Gefühl mit einer sehr einfachen Idee ganz wunderbar ein. Zugleich zeigt die erste Kostprobe des neuen Albums, dass das Trio solch verstörende Gedanken natürlich nicht in trübsinnigen Blues, dystopischen Postrock oder fragile Akustiklieder packt, sondern wieder in grandiose Indie-Hymnen. Laut Murph geht es in diesem Lied darum, dass er „ständig in eine ‚Einsamer Wolf‘-Mentalität verfällt und welche Konsequenzen das im wirklichen Leben haben kann“. Sorry I’m Late, I Didn’t Want To Come glänzt dabei mit einem sehr heiteren und sonnigen Sound (erst recht angesichts Zeilen wie „I’m aware that I’m the problem / but that doesn’t solve the problem“ oder „It’s not that I hate you / I just hate everyone“) und großer Melodieverliebtheit. Zudem überraschen die Wombats, die zuletzt mit Fix Yourself, Not The World (2022) ihr erstes Nummer-1-Album erreicht haben, im Refrain mit Kopfstimme, einem funky Bass und später auch sehr flinken Percussions.

Wir alle wissen, wie zerstörerisch Wut sein kann. Dieses Gefühl hat aber immerhin einen Vorteil: Es kommt immer aus dem Moment, aus dem Affekt und einem sehr konkreten Impuls. Wut kann eine spontane, feurige Kraft sein. Aber sie ist auch schnell wieder vorbei. Ganz anders verhält es sich da mit einem verwandten Gefühl: dem Zorn. Der kann bleiben, in dich hineinwachsen und dich zerfressen. Er kann aber ebenso auch ein prägendes Element deines Selbst werden, als Antrieb oder Schutzpanzer. Erst recht gilt das, wenn dich dieses Gefühl schon seit vielen Jahren begleitet. Turbostaat wissen das offensichtlich sehr genau und haben ihre neue Platte Alter Zorn genannt. Das achte Studioalbum des seit 25 Jahren bestehenden Quintetts aus dem hohen Norden erscheint am 17. Januar 2025, im Frühjahr beginnt eine gleichnamige Tour, die Marten Ebsen, Jan Windmeier, Rollo Santos, Tobert Knopp und Peter Carstens am 5. April auch wieder einmal ins Conne Island nach Leipzig führen wird. Die Single Jedermannsend (***) zeigt, dass die Kunst von Turbostaat einfach Sekunde für Sekunde besser in unsere kaputte Zeit zu passen scheint, mit einem apokalyptischen Sound (auch diesmal wieder mit viel Kraft und Punch, nach rund drei Minuten aber auch in einen schwarzen Abgrund schauend) und mysteriös-düsteren Texten (diesmal: jede Menge tote Vögel). Das Lied ist zwar der erste Vorbote auf die neue Platte (produziert erneut von Moses Schneider), wird darauf aber der letzte von zwölf Songs sein. Die Rolle als Schlusspunkt passt wunderbar, denn Turbostaat besingen in Jedermannsend die letzten Dinge, konkreter: Tod, Trauer, und wie man vielleicht darüber hinwegkommen kann, irgendwann – auch wenn in jedem Moment eine neue Wunde aufreißen kann, auch wenn jeder Tag eine Bewährungsprobe für die eigene Erinnerung wird.

Daniela Reis, früher bei Schnipo Schranke, hat unlängst im Buch Kommst du mit in den Alltag? darüber berichtet, wie schwer ihr der Start in die Solokarriere und das (finanzielle) Überleben im Musikmarkt nach dem unverhofften Erfolg ihrer Band fiel. Ihre einstige Kollegin Fritzi Ernst scheinen ähnliche Sorgen zu beschäftigen. Sie berichtet darüber allerdings nicht in Interview-Form in einem Sachbuch, sondern in ihrer neuen Single Ich steh im Bett (***1/2) : „Wenn’s sein muss, mach ich mich bekloppt / in schlechten Zeiten bis zum Tod / Jackpot oder arbeitslos“, lauten ein paar Verse darin. Mit Plinker-Klavier und viel NDW-Flair, wie man das vom 2021er Solo-Debüt Keine Termine kennt, geht es dabei an erster Stelle um die seltsamen Verhaltensweisen von Menschen, deren Beruf das Songwriting ist. Zugleich wirft Fritzi Ernst damit aber auf einer weiteren Ebene auch einen Blick auf die wirtschaftlichen Bedingungen des Kreativseins. Es geht darum, jeden Moment der Inspiration zu verwerten („Vielleicht kann ich dann davon leben“), die eigenen Ideen stetig zu optimieren („Vielleicht geht es noch ein bisschen geiler“) und nicht zuletzt, die Entscheidung für diesen Lebensentwurf öfter in Zweifel ziehen zu müssen, als einem lieb sein kann („Musik ist mein verdammtes Leben“). Das Lied ist der erste Vorgeschmach aufs neue Album Jo-Jo, das am 6. Dezember herauskommt und wieder in enger Zusammenarbeit mit Ted Gaier von den Goldenen Zitronen entstanden ist.

Nach dem Mega-Erfolg von AnnenMayKantereit ist Christopher Annen sicher wohlsituiert genug, um die eine oder andere Musestunde im Studio verdaddeln zu dürfen. In so einer Situation verabredete er sich unlängst mit Francesco Wilking (Die Höchste Eisenbahn). Eigentlich wollten die beiden Musiker nur zwei Lieder zusammen einspielen, aus Liebhaberei und gemeinsamem kreativen Forschungsdrang, ohne Absicht auf Veröffentlichung. Am Ende sind daraus 15 Lieder geworden, die am 7. Februar unter dem Titel Alles was ich je werden wollte als Album erscheinen werden. Schon heute legen sie eine 4-Song-EP mit dem Titeltrack Gut so allein (****) vor. Es gibt darin zwar ein recht schroffes Gitarren- und ein recht klassisches Saxofonsolo, aber insgesamt ist der Sound so tiefenentspannt wie die Entstehungsweise dieser Musik es offensichtlich war (auch Bläser, Streicher oder Chöre fanden nach Angaben von Annen und Wilking durch zufällige Besuche von befreundeten Künstler*innen ihren Weg auf die Platte). Der Text erzählt davon, wie schön es sein kann, sich dem Konkreten zu verweigern, erst recht dem Berechenbaren und der Routine. Diese Beiden wissen offensichtlich: Irgendwie ist letztlich alles meistens gar nicht so schlimm – und aus Missgeschicken und Zufällen (und Musestunden) können Abenteuer werden.

Und was geht in Leipzig? Da tummelt sich Cary am Nordplatz (****), wie die aktuelle Single heißt. Erneut hat sie den Track mit den Produzenten Loybeatz und Tinkah umgesetzt, erneut kann man an so etwas wie Haiyti ohne den Hedonismus denken. Nordplatz ist extrem ruhig in der Grundstimmung und dabei doch äußerst ereignisreich. Dieses Sounddesign passt perfekt zur Erzählung von der Sehnsucht nicht so sehr nach mentaler Gesundheit, sondern nach der Möglichkeit zur Authentizität, die Voraussetzung für diese Gesundheit ist. Am 7. Februar 2025 erscheint das Debütalbum Allein oder Einsam, am 26. Februar ist Cary dann live im Werk2 zu erleben.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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