Wenn sich zwei absolute Lieblinge von Shitesite zusammentun, ist die Erwartungshaltung natürlich noch größer als die Sorge, das Ganze könnte in einem Fiasko enden. Bei Club 27 (****) kann man sich diesbezüglich schnell entspannen, den die Zusammenarbeit von Thees Uhlmann mit Benjamin von Stuckrad-Barre funktioniert bestens. Letzerer hat den Song mit Robin Grunert (der auch schon für Chris Norman, Christina Stürmer, Die Prinzen oder Sasha tätig war) geschrieben, Ersterer hat ihn mit seinen üblichen Produzenten Simon Frontzek und Rudi Maier aufgenommen. Im Video darf der Popliterat gemeinsam mit Schauspielerin Josepha Walter ebenfalls mitwirken, und er hat sich hier natürlich dem legendären Club all der Musikgrößen gewidmet, die im Alter von 27 Jahren starben. Dazu gehören Jimi Hendrix, Jim Morrison oder Brian Jones, die im Video auch kurz zu sehen sind, ebenso wie Kurt Cobain, der am 5. April (dem Erscheinungsdatum dieser Single) seinen 27. (!) Todestag hat. Noch mehr steht im Lied, das Stuckrad-Barre schon vor ein paar Jahren in Los Angeles geschrieben hat, kurz bevor er mit der Arbeit an seinem Roman Panikherz begann, die Frage im Mittelpunkt, wie nah er selbst wohl einem Mitgliedsausweise gekommen ist. Es geht um den Flirt mit Exzess und Gefahr, ebenso um die Erkenntnis, dass es im Rückblick gut ist, überlebt zu haben, auch wenn es vielleicht knapp war. „Too old to die young / sprach der Sensenmann“, singt Thees Uhlmann nun, und daraus spricht auch der nicht allzu coole, aber zutreffende Gedanke, dass Selbstzerstörung nicht glamourös ist. Arne Wilander (einst Kollege von Stuckrad-Barre bei der deutschen Ausgabe des Rolling Stone) beschreibt im Pressetext sehr schön, wie gut dieser erwachsene Blick, der stets nur einen kleinen Schritt von der Sehnsucht nach dem Taumel der Jugend entfernt ist, zu Thees Uhlmann passt, „bei dem man nicht weiß, ob seine heitere Traurigkeit noch Hedonismus oder schon Fatalismus ist“. Das ist vielleicht das Schönste an diesem Lied: Das Versprechen, dass der eigene Mythos auch dadurch entstehen und wachsen kann, dass man nicht der Versuchung nach dem finalen Schlussstrich nachgibt, sondern immer weitermacht.
Auch Bilderbuch nehmen den trügersichen Reiz des Hedonismus in den Blick, Daydrinking (***) ist eine von zwei parallel erscheinenden neuen Singles. „Zeig mir deine Perle / ich tauche tief / kein Rush, keine hurry / nur Intimacy“, heißt es im Text, entsprechend kryptisch, warm und psychedelisch klingt auch die Musik dazu. Das zweite neue Lied ist Nahuel Huapi (***1/2), mit dem die Wiener den gleichnamigen See im nördlichen Patagonien in Argentinien besingen, wohl als Ort von Sehnsucht und Sinnsuche – in jedem Fall auch hier als Möglichkeit, gut und böse, innen und außen, essentiell und überflüssig voneinander abgrenzen zu können. Das sind ja beim Erwachsenwerden (und danach) keine ganz leichten Aufgaben.
Keine Termine wird das am 11. Juni erscheinende erste Soloalbum von Fritzi Ernst heißen, die früher eine Hälfte von Schnipo Schranke war, bis sich das Duo 2019 nach sieben Jahren und zwei Alben aufgelöst hat. Das ist eindeutig kein Bezug zum Corona-bedingten Stillstand, sondern eher ein Verweis auf das berühmte Zitat, in dem Harald Juhnke seine Definition von Glück zusammengefasst hat. Die gleichnamige Single (****) lässt daran mit Zeilen wie „Jede Sekunde ein Genuss / wenn ich nichts machen muss“ keinen Zweifel. Mit einem sehr cleveren Arrangement (die Platte wurde gemeinsam mit Ted Gaier von den Goldenen Zitronen produziert) feiert der Song die Freiheit, die aus der Verweigerung entstehen kann. Das Piano (nach dem Aus der Band hatte die Hamburgerin zunächst eine Ausbildung zur Klavierbauerin begonnen) ist das dominierende Instrument, das Video entlarvt Optimierungsversuche als stumpfe Routine, auf die man ebenfalls gut verzichten kann, wenn man sich lieber selbst genügt statt der nächsten Party nachzujagen oder sich dem Zwang zur Geselligkeit zu beugen: „Alle wollen was erleben / ich könnt‘ mich übergeben.“
Der Aufruf, sich mehr Autonomie zu erlauben, steckt auch in Belly Call (***1/2), der neuen Single von Slut. „Der Drang, Menschen oder Situationen permanent einzuordnen, vermittelt uns einerseits ein Gefühl von Sicherheit, sorgt aber gleichzeitig für den nötigen Überblick und ein Grundmaß an Kontrolle. Mit jeder Schublade, die wir aufziehen, denken wir in Kategorien, urteilen vorschnell und grenzen uns dadurch ab, obwohl wir eigentlich nicht getrennt sind. Dann sehen wir die Dinge, wie sie sein sollen. Nicht, wie sie tatsächlich sind“, sagt Sänger Chris Neuburger. „Dabei ist die Welt zu groß für unsere Archive, der Bauch meist intelligenter als unser Verstand und Schuld nur eine Spielart unserer Angst. Bigger than we are.“ Aus diesem Gedanken hat er gemeinsam mit seinen mittlerweile nur noch drei Bandmitgliedern (und Produzent Fabian Isaak Langer, der hier auch mitgeschrieben hat) einen Song gemacht, der entsprechend sanft, intuitiv und überasschend klingt. Der Hinweis, dass man offen für Neubewertungen bleiben sollte, ist sich auch auf das Wirken der Band selbst bezogen: Das neunte Slut-Album Talks Of Paradise erscheint am 18. Juni.
„Wie viel kostet mein Leben / sag’s mir, ich kann nicht zählen“, singt Haiyti in Was noch (****1/2), einem Stück von ihrem heute erscheinenden Überraschungsalbum Mieses Leben. Da kann man natürlich die Anziehungskraft des Club 27 heraushören, die in der Musik der Hamburgerin schon immer unverkennbar ist, zugleich gibt es auch diesmal weder die Frage, was Statussymbole wie die Prada-Sneaker (oder die Luxuswohnung, durch die es im Clip eine kurze Führung gibt) wirklich wert sind. Dass das nach wie vor packend und einmalig ist, wird umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Mieses Leben schon der elfte Release von Haiyti seit dem Debütalbum Havarie ist. Diesmal gibt es 18 Songs, deren Beats unter anderem von Sosa, Alexis Troy, Jush und AsadJohn und jaynbeats beigesteuert wurden. Dürfte wieder ein absolutes Deutschrap-Highlight sein.