Künstler | Gerry Cinnamon | |
Album | The Bonny | |
Label | Little Runaway | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Es ist ein Schock wie das Messer, das in Psycho durch den Duschvorhang schlitzt. Canter heißt der erste Song auf dieser Platte, und nachdem man darin schon einen ungewohnten Echo-Effekt auf der Stimme von Gerry Cinnamon und eine irritierend pompöse Trommel ausmachen konnte, setzt nach zwei Minuten tatsächlich ein Quasi-Disco-Beat ein. Folgt der Mann, der so gerne über die Verkommenheit der Musikindustrie schimpft, auf seinem zweiten Album etwa Trends? Biedert sich Gerry Cinnamon, der für Sozialkritik, DIY und maximale Authentizität steht, neuerdings dem Massengeschmack an? Will er nach dem Überraschungserfolg mit dem Debüt Erratic Cinematic (Top20 in den UK-Albumcharts, mehr als 200.000 verkaufte Tourtickets) nun auf Teufel komm raus die nächste Karrierestufe zünden?
Dieser Verdacht erweist sich als unbegründet, die vermeintlichen Modernismen legen eine falsche Fährte. Der Text von Canter zeigt ihn als nach wie vor bodenständigen Mann, der viel Mist gesehen und sich trotzdem seine Zuversicht bewahrt hat. Die Begleitumstände sprechen ebenfalls gegen Kalkül: The Bonny erscheint auf dem eigenen Mini-Label von Gerry Cinnamon, das Erscheinungsdatum hat der Mann aus Glasgow sehenden Auges mitten in Lockdown und Pandemie gelegt. Die Lieder waren fertig, nun sollen sie unter die Leute, lautet seine schlichte Begründung dafür.
Auch die Musik auf The Bonny wird alle Fans schnell versöhnen, denen jeder Einsatz von Studiotechnik suspekt erscheint. Schon das zweite Lied, War Song Soldier, könnte mit Mundharmonika und Picking auf der akustischen Gitarre kaum ursprünglicher sein, dann kommt der alte Boom-Tschika-Boom-Rhythmus hinzu, der schon Johnny Cash so gute Dienste geleistet hat. Stücke wie das innige Head In The Clouds oder das reduzierte Outsider hätten perfekt aufs Debüt gepasst. Der Titelsong The Bonny klingt, als sei Gerry Cinnamon noch immer ein Straßenmusiker.
Das extrem hübsche Sun Queen schließlich formuliert ein Bekenntnis zu den eigenen Wurzeln und zur eigenen Ästhetik. „Sing my songs / I never thought I’d make it this far“, lauten zwei Zeilen darin, die kein bisschen selbstgerecht klingen, sondern voller Hingabe an die Angebetete stecken. Noch programmatischer wird Six String Gun, mit dessen Titel sich der 35-Jährige in die Tradition von Woody Guthrie stellt, auf dessen Instrument einst ein Aufkleber mit dem Hinweis „This machine kills fascists“ klebte. Ein Lied wie der Album-Abschluss Every Man’s Truth zeigt, dass das keineswegs anmaßend ist: Wie es im Folk seit jeher üblich ist, packt Gerry Cinnamon alltägliche Situationen, menschlich-allzumenschliche Konflikte, seinen kritischen Blick auf die Welt und sein unverstelltes Gefühlsleben in Songs, die genau deshalb so viel Identifikationspotenzial bieten.
Live funktioniert das am besten, die Tour zu The Bonny soll im Mai/Juni 2021 nachgeholt werden. Ein Lied wie Dark Days – mit der nüchternen Erkenntnis der Realität und dem heiteren Glauben an bessere Zeiten – dürfte dann ein Höhepunkt werden, denn die Dramaturgie zielt auf die Katharsis, die man in seinen Songs oft erkennen kann. So treu der Schotte hier diesem Prinzip bleibt, so deutlich wird doch das Bestreben nach dezenter Weiterentwicklung. Mayhem hat ein ambitioniertes, komplexeres Arrangement, verliert dadurch allerdings auch etwas an Charakter. Drums und Atmosphäre in Where We’re Going erinnern etwas an The Cure, auch der Text würde dazu passen, denn er handelt vom unverhofften (und womöglich brüchigem) Glück und der heimlichen Sehnsucht nach der Zeit, bevor es in sein Leben kam. Roll The Credits hat eine erstaunliche Ernsthaftigkeit, die gut zu seiner Stimme passt und so zu einem Album-Höhepunkt wird. „This writer ain’t sick in the mind / and sick in the heart“, singt Gerry Cinnamon – und weiß, dass ihn das schon zu einer Ausnahmeerscheinung macht.