Girl In Red Marie Ulven

Girl In Red – „Chapter 1“

Künstler*in Girl In Red

Girl In Red Chapter 1 Review Kritik
Die fünf Songs des „Chapter 1“ sind komplett in Eigenregie entstanden.
EP Chapter 1
Label Marie Ulven
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Natürlich kann man verstehen, wenn Musiker*innen das Internet hassen. Statt auf Tour neue Songs schreiben (oder wenigstens ausschlafen) zu können, muss man seine Social-Media-Accounts pflegen. Verspielt man sich abends auf der Bühne oder macht einen misslungenen Witz in der Ansage eines Songs, landet das sofort im Netz und löst möglicherweise einen Shitstorm aus. Probiert man im Soundcheck ein neues Lied aus, kann das auch von jedermann gefilmt und online verbreitet werden, sodass der Track vielleicht in Fankreisen schon zu Tode diskutiert wurde, bevor er überhaupt fertig komponiert ist. Dazu haben Downloads und Streaming die wunderbar romantischen Plattenläden fast ausgerottet, selbst die großen Traditionsketten wie Tower Records in den USA (verschwunden seit 2006), WOM in Deutschland (2010) oder HMV im UK (2013). Und statt sich an den Erlösen aus dem Verkauf von Tonträgern erfreuen zu können, muss man mit den Almosen leben, die große Online-Dienste für Künstler*innen übrig lassen. Im Durchschnitt 0,1 bis 0,2 Cent sind das pro YouTube-Aufruf, sogar nur 0,004 Cent pro abgespieltem Song bei Spotify.

Aber natürlich hat das World Wide Web auch seine Vorteile. Es bringt uns (natürlich an erster Stelle) wunderbare Blogs wie Shitesite, zudem jederzeit und enorm günstig den Zugriff auf unfassbar viel Musik aus etlichen Jahrzehnten und aller Herren Länder. Nicht zuletzt wird es damit sehr niederschwellig möglich, seine Musik für ein weltweites Publikum zu verbreiten. Und im besten Fall entstehen daraus Karrieren wie die von Girl In Red. Sie begann in einem Kinderzimmer südlich von Oslo, wo Marie Ulven zunächst Lieder auf Norwegisch schrieb und auf Souncloud veröffentlichte, bevor sie seit September 2017 ihre Musik als Girl In Red und auf Englisch machte. Und wo sie enden wird, ist angesichts des von ihr ausgelösten Hypes kaum absehbar.

Die 20-Jährige hat Ende 2018 diese Debüt-EP veröffentlicht, deren fünf Songs komplett in Eigenregie entstanden sind. Es folgten Award-Nominierungen in der norwegischen Heimat , euphorisches Lob von der New York Times und Tourneen durch Europa und die USA. Im September hat sie Chapter 2 veröffentlicht (beide EPs zusammengefasst sind gleichzeitig als das Quasi-Album Beginnings erschienen), wurde als beste Newcomerin für den wichtigsten Musikpreis ihrer Heimat nominiert und von YouTube mit einer großen Kampagne unterstützt. Dieser sehr schnelle Erfolg hat zwei Gründe, die man Chapter 1 sehr genau anhören kann. Der erste ist die Fähigkeit der Gay Community, sich online zu vernetzen und neue Aushängeschilder sehr schnell sehr populär zu machen. Der zweite ist die Qualität dieser fünf Lieder.

I Wanna Be Your Girlfriend eröffnet die EP und kommt sofort zur Sache. Die angebetete Hannah soll die Botschaft schließlich unbedingt verstehen: „I want to kiss you until I lose my breath.“ Ein schlichter Beat, etwas Verzerrung auf der Stimme, ein Bass, der gegen Ende eine prominentere Rolle bekommt, und die akustische Gitarre reichen aus, um die Unbedingtheit dieses Wunsches nicht egoistisch, sondern romantisch klingen zu lassen.

Say Anything setzt auf etwas mehr Niedlichkeit, die mit einer Smiths-Gitarre und einer tollen Melodie erzeugt wird, im nur 111 Sekunden langen 4am („I’m thinking too much again“, lautet das Problem zu dieser Uhrzeit) wollen die Gitarre und die stoischen Drums dem Kopf offensichtlich dabei helfen, endlich abschalten zu können. Summer Depression baut ein paar Stimm-Samples über „Teenage Suicide“ und andere Folgen psychischer Probleme ein und erzählt von einer Traurigkeit, die noch schlimmer erscheint, wenn draußen die Sonne scheint, die Freund*innen alle Spaß haben und man weiß, dass sie im Jahr darauf zuverlässig wiederkehren wird. Der reduzierte Sound würde zu The XX passen, an anderen Stellen des Chapter 1 könnte man auch SoKo oder Beabadobee als passende Bezugspunkte für Girl In Red benennen.

Die EP endet so, wie sie angefangen hat: mit einem unmissverständlichen Bekenntnis. Girls thematisiert die hormonelle Verwirrung des Heranwachsens und die Erwartungshaltung der Umgebung, legt sich vor allem aber fest: Jungs können zwar auch hübsch sein, aber sie interessieren Girl In Red einfach nicht. „I know what I like / this is not a phase / or coming of age / this will never change“, singt sie in diesem vielleicht elegantesten Coming Out aller Zeiten. Natürlich ist letztlich auch das ein wichtiger Schlüssel für den Appeal von Chapter 1: Es gibt hier viele Möglichkeiten für Identifikation und tolle Lieder zum Mitfühlen bei all den Problemen, die (homosexuelle) Liebe eben mit sich bringen kann.

Die Regenbogenfahne unterstreicht im Video zu Girls die Botschaft.

Website von Girl In Red.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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