Künstler*in | Girl In Red | |
EP | Chapter 2 | |
Label | Marie Ulven | |
Erscheinungsjahr | 2019 | |
Bewertung |
Man kann nicht anders als verwirrt sein, wenn man sich dieser EP nähert. Denn Girl In Red eröffnet Chapter 2 mit Watch You Sleep, ihrem bisher vielleicht zärtlichsten Lied, einem Moment voller Ruhe und Intimität. Es gibt darin nur vorsichtiges Gitarrenpicking und ihre hingehauchte Stimme, ganz am Ende dann ein paar Töne vom Bass und ein paar Schläge auf eine Trommel, bis der Gesang im Hall verschwindet. Das wäre eindeutig eher ein Rausschmeißer als ein Opener.
Das ungewöhnliche Tracklisting lässt sich aber schnell aufklären: Chapter 2 versammelt fünf Songs, die Marie Ulven (die junge Norwegerin hinter diesem Projekt) ursprünglich zwischen Januar und September 2019 einzeln online veröffentlicht hat, bei Spotify und Soundcloud. Sie sind hier in chronologischer Folge ihrer Entstehung enthalten, und die EP zeigt damit wie zuvor bereits Chapter 1, wie wunderbar diese Künstlerin die Möglichkeiten der Online-Welt für sich nutzt. Sie kann nicht nur alleine in ihrem Zimmer professionelle Popmusik produzieren, unabhängig und mit maximaler Aktualität veröffentlichen und über ihre Social-Media-Kanäle vermarkten, wo sie zudem engen Austausch mit ihren Fans hält. Das Publikum hat auch die Möglichkeit, quasi in Echtzeit ihre kreative Entwicklung und ihre künstlerischen Fortschritte zu verfolgen.
I Need To Be Alone stellt wieder den Weltschmerz in den Fokus, der sich bei Girl In Red so häufig findet („It’s getting harder to exist / I don’t want to feel like this“), ist dafür aber erstaunlich schwungvoll und zugänglich, am Ende entwickelt sich fast ein kleiner Taumel. Das folgende Dead Girl In The Pool hat viel mehr Präsenz als die ersten beiden Tracks der EP, auch mehr als alles auf Chapter 1 (vielleicht hat sich Ulven zu diesem Zeitpunkt einfach neue Aufnahmetechnik angeschafft), auch das trägt dazu bei, die Klarheit ihrer Musik zu unterstreichen: Es gibt keine Verstecke in diesem Sound. Alles liegt auf der Hand, und das passt zur Offenheit der Texte und zur Klarheit der Aussagen.
Der Fatalismus von I’ll Die Anyway entsteht daraus, dass es mal Zeiten voller Zufriedenheit in ihrem Leben gab, sie sich jetzt aber vollkommen verloren hat. Mit seinem recht forschen Beat ist das Lied zugleich eine tolle Hinführung zum Highlight von Chapter 2 und dem bisher besten Song, den Girl In Red gemacht hat: Bad Idea. Sie schließt (und rechnet) mit einer Beziehung ab, vielleicht auch nur mit einer Romanze, und sie klingt dabei nicht zerbrechlich wie sonst so häufig, sondern entschlossen, gefährlich, leidenschaftlich.
Auch darin besteht, neben der schieren Klasse ihrer Kompositionen, der Reiz von Girl In Red: Ihre Lieder zeigen, was sie gerade beschäftigt. Sie begleiten ihr Erwachsenwerden (und wohl eindeutig auch das ihrer Fans), dem sie stets sensibel, bei Bedarf auch einmal sarkastisch und humorvoll begegnet, weil das dabei hilft, die Welt zu ertragen. Sie verstellt sich dabei nicht und nimmt kein Blatt vor den Mund – und deshalb fühlt es sich fast an, als hätte man mit Chapter 2 das nächste Kapitel ihres Tagebuchs gelesen, kurz nachdem die Seiten darin erst beschrieben wurden.