Blickt man an so einem Sonntagabend vor Beginn des Konzerts von Gisbert zu Knyphausen in die Gesichter der Menschen in der ausverkauften Nato, braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie sie die vergangenen 24 Stunden verbracht haben. Manche waren vielleicht beim Fußball, andere mit den Kindern auf dem Spielplatz. Das Pärchen vorne links hat sicher händchenhaltend einen Spaziergang gemacht, das Mädchen mit der Latzhose vielleicht ein Museum besucht. Der Weißhaarige auf der Tribüne hat womöglich erst gegen Nazis demonstriert und danach noch seine Steuererklärung gemacht, der Typ im schwarzen Hemd (ich) offensichtlich am Vorabend viel zu viel Gin Tonic und Gisela getrunken.
Diese Menschen in Publikum sind vielleicht das, was man „einen Querschnitt der Gesellschaft“ nennen kann. Höchstwahrscheinlich sind sie ein bisschen romantischer, sensibler und klüger als der Durchschnitt (sonst wären sie nicht hier), aber alles in allem sind es ganz normale Leute. Sie haben Freunde und Familie, sie gehen arbeiten und werden vielleicht die Tagesschau und den Tatort, die sie wegen des Konzertabends verpassen, noch später in der Mediathek anschauen. Weil man das halt so macht.
Das Besondere an der Musik von Gisbert zu Knyphausen, das zeigt sein Auftritt in der Nato wunderbar, ist seine Perspektive auf diese Menschen. So sehr wie sie vielleicht davon träumen, ein poetischer Freigeist zu sein, ein Künstlerleben zu führen und auf der Bühne bejubelt zu werden, so sehr sehnt er sich in seinen Liedern gelegentlich nach dem, was eben ein ganz normales Leben ist. Er erhebt sich nicht über die Welt der 9-to-5-Jobs, hat keine Lust auf Genie-Gehabe und glorifiziert nicht das, was Otto Normal vielleicht als „verkrachte Existenz“ bezeichnen würde. Anders als viele andere Künstler*innen in seinem Metier verachtet er das, was durch die schiere Kraft der Empirie zum Standard-Lebensentwurf wird, nicht als gewöhnlich und profan. Er suhlt sich auch nicht in seinem Weltschmerz, um zu beweisen, wie viel besser als alle anderen er die Tragik des Daseins verstanden hat. Im Gegenteil: Fußball, Museum, Kinderspielplatz und Steuererklärung können bei ihm wie eine Verheißung wirken. Weil sie vielleicht der Ausweg sind aus ewigem Grübeln, Selbsthass und Misanthropie.
„Ich will einer von ihnen sein“, singt er in Das Leichteste der Welt, „Melancholie, fick dich ins Knie“, heißt sein Schlachtruf gegen Ende der Show in Leipzig. Auch wenn diese Bekenntnisse immer auch ambivalent zu verstehen sind, spricht daraus tatsächlich so etwas wie Neid auf all jene, die nicht Lieder voller Empfindsamkeit, Tiefe, Trost und Hingabe schreiben müssen, um ihr Leben zu meistern und sich so etwas wie Hoffnung zu bewahren. Die Menschen im Saal wollen ein kleines bisschen sein wie der Mann auf der Bühne, und der Künstler da oben will ein kleines bisschen sein wie die Leute in seinem Publikum – daraus erwächst eine sehr besondere Beziehung.
Wo andere Acts von ihren Fans maximale Euphorie einfordern, bedankt sich Gisbert zu Knyphausen bei den Besucher*innen in Leipzig dafür, dass sie so still sind. „Wir genießen!“ erwidert jemand aus dem Saal. Als der Künstler das letzte Lied ankündigt, ertönt kein empörtes Buh und kein theatralisches Seufzen, sondern ein „Bleib bei uns!“-Zuruf. Und wenn man jemanden mit verschränkten Armen in der Nato sieht, darf man sicher sein, dass das keine Geste von Desinteresse und Abwehr ist, sondern dass da einfach jemand versucht, mit seiner Gänsehaut klarzukommen.
Die Show findet statt, weil Gisbert zu Knyphausen „mal wieder Lust auf kleine Akustikkonzerte hatte“, wie er sagt, entsprechend gibt es nur ihn, zwei Gitarren und viele alte Lieder im Programm. Gerade bei den frühen Stücken überrascht aus heutiger Sicht, wie oft darin bereits Vergänglichkeit als Motiv erkennbar wird. Zugleich zeigt der Abend in Leipzig, wie verwegen der Versuch wäre, diese Songs am Lagerfeuer nachzuspielen: Fast alles ist hoch komplex komponiert und virtuos gespielt, vom Leonard-Cohen-Fingerpicking über Open Tunings bis zu wilden Attacken, die man sich beispielsweise auch von Frank Turner vorstellen könnte.
Der 44-Jährige arbeitet nach eigenen Angaben nach diversen Nebenprojekten gerade wieder an einer neuen Soloplatte („Es läuft mühsam“, lautet die Zwischenbilanz), nach einer halben Stunde packt er in Leipzig auch einen neuen Song ins Programm. Eine Torte spielt darin eine wichtige Rolle, es geht im Lied („Nicht das beste und nicht das schlechteste, das ich je geschrieben habe“, sagt Knyphausen) auch um Klebstoff und Zaubertricks. Und natürlich geht es auch wieder darum, all jenen eine Stimme zu geben, die Angst haben und an sich selbst zweifeln, denen das Herz gebrochen wurde und die ihre Liebsten verloren haben – ohne deshalb zu kapitulieren.