Fußball und Musik

Gunnar Leue – „You’ll Never Sing Alone“

Autor*in Gunnar Leue

Gunnar Leue You’ll Never Sing Alone Buchkritik
Das Buch erzählt, wie die Musik in den Fußball kam.
Titel You’ll Never Sing Alone. Wie die Musik in den Fußball kam
Verlag Ventil
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung Foto oben: LoggaWiggler auf Pixabay

„Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen (…): dass sie zusammengehörten, (…) dass sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und dass jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. (….) Jeder einzelne erlebte die Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr die isolierte Mensch von früher, (…) er konnte Held werden.“

Man könnte meinen, der hier beschriebene Moment fasse den kollektiven Taumel nach einem WM-Gewinn in Worte. Das Zitat würde genauso gut passen als Schilderung eines riesigen, phänomenalen Rock-Festivals. Wie ähnlich beides sich anfühlen kann, stützt die These, die Gunnar Leue in You’ll Never Sing Alone aufstellt: Fußball und Musik gehören einfach zusammen.

Dass diese Worte, die von Stefan Zweig stammen, in Wirklichkeit seine Wahrnehmung des Augusterlebnis‘ 1914 beschreiben, also den Moment, in dem die deutschen Staaten ihren Eintritt in den Ersten Weltkrieg erklärten, ist dabei nicht zwangsläufig ein Widerspruch. Patriotismus und Militarismus waren gerade in Deutschland für die frühe Phase des Sports sehr prägend, Werte wie Treue, Kamp- und Opferbereitschaft werden noch heute in vielen Fußballliedern hochgehalten. Auch die Themen „Stolz, Größenwahn, Sauflust“, die der 1963 geborene Autor als bevorzugt für die erste Phase des Fußballs hierzulande identifiziert, und die dazugehörige Formel „simpler Text auf simple Melodie“ sind längst nicht aus der Mode gekommen.

Ausgehend von diesen Anfängen erzählt Leue chronologisch rund 150 Jahre des Zusammenspiels zwischen dem Kick auf dem grünen Rasen und dem Gesang auf den Rängen, der von Siegen und Niederlagen handeln kann, manchmal auch die Eigenheiten von Trainern oder besonders bedeutende Fouls in Liedform packt. Dazu gehören auch skurrile Nebenerscheinungen wie singende Fußballstars, Musical-Schmachtfetzen, die zu Vereinshymnen werden, oder prominente Fans wie Bob Marley, Dimitri Schostakowitsch, Robert Plant und Elton John.

Manchmal wird das Buch arg anekdotisch, gelegentlich verliert der Autor dann nicht nur das Thema Musik, sondern auch den Fußball aus den Augen und nutzt die Gelegenheit, stattdessen seine Ansichten zu Hartz IV oder dem Ukraine-Krieg unters Volk zu bringen. Dafür entschädigt er aber mit originellen Ideen wie der Weltauswahl singender Fußballer (im 3-5-2- System), der ewigen Tabelle der am häufigsten besungenen Vereine (die seltsamerweise 19 Plätze hat, offensichtlich damit Leue noch Union Berlin als seinen Lieblingsclub dort unterbringen kann) oder einem von ChatGTP geschriebener Fan-Gesang. Sehr sehenswert und liebevoll zusammengestellt sind auch die vielen schönen Abbildungen, nicht wenige der gezeigten Plattencover stammen dabei aus seiner stattlichen Privat-Sammlung an Fußballplatten.

In zweierlei Hinsicht zeichnet Reue das Miteinander von Fußball und Musik besonders eindrucksvoll nach. Erstens im Hinblick auf die eingangs beschriebenen Parallelen in der Emotionalität und der Wirkung von Massenpsychologie. Es geht um das Gefühl von Identifikation, Zugehörigkeit und die Erinnerung an gemeinsam erlebte Hochs und Tiefs, die zu einem beinahe auf familiäre Weise unverbrüchlichen Gefühl von Zusammenhalt führen können. Was auf den Rängen im Stadion erklingt, beschreibt der Autor treffend als „moderne Heimatmusik, die unterschiedliche Milieus im kollektiven Gesang vereint“. Die dort gesungenen Lieder sind „der pointierteste, mitreißendste, lustigste, hässlichste und peinlichste Ausdruck von Fußballverrücktheit. (…) Trauer, Trotz und vielleicht schon ein Hoffnungsschimmer können aus einem platten Fußballgesang ein anrührendes Liebeslied machen. Nicht für die Welt, aber für alle Fans an deiner Seite.“

Ian Broudie, der als Teil der Lightning Seeds mit Three Lions (Football’s Coming Home) eine der größten Fußball-Hymnen aller Zeiten komponiert hat, beschreibt die anscheinend natürliche Verbindung zwischen Hoffen und Bangen im Stadion und der Anfeuerung im Chor so: “Ich glaube, in Momenten, wo die Emotionen zu groß werden, drückt jeder sie in einem Lied aus.“ Thees Uhlmann, der ein Vorwort zu You’ll Never Sing Alone. Wie die Musik in den Fußball kam beigesteuert hat, drückt es darin noch poetischer aus, wenn er die „Suche nach einem emotional verbundenen Kollektiv“ beschreibt oder „dieses unbeschreibliche Gefühl, in einer Gruppe aufzugehen, die die gleiche Liebe teilt“.

Zweitens zeichnet Gunnar Leue hier sehr eindrucksvoll die immer weiter fortschreitende Kommerzialisierung des Fußballs nach, die Verknüpfung mit Musik ist dabei sowohl Ergebnis als auch Treiber dieser Entwicklung. Fußball und Musik sind – bis heute – nicht nur zwei der beliebtesten Wege zum sozialen Aufstieg für Kids aus unterprivilegierten Schichten, sie sind beide auch längst ein Produkt der Unterhaltungsindustrie. Leue zeigt beispielsweise, wie entscheidend die Jahre 1963/64 für die Kommerzialisierung ebenso wie für die Verankerung des Fußballs in der Jugendkultur waren, etwa mit dem Start der Bundesliga inmitten der Beatlemania. Er zeigt Strukturen und Prozesse der gegenseitigen Befruchtung und kommt zum Schluss: Ohne Musik „wäre der Fußball vielleicht nie zu dem milliardenschweren globalen Unterhaltungsgeschäft geworden, das er heute ist. Die Zuschauerbindung, die sich in Fangesängen und Fußballliedern ausdrückte, ermöglichte überhaupt erst den Profifußball und das parallele Entstehen von Fußballkultur und -business.“

In dieser Zuspitzung von „Bindung = Gesang“ steckt indes auch die Schwäche seines Buchs. Er scheint der Ansicht zu sein: Fußball ohne Singen ist gar kein richtiger Fußball. Und das ist, mit Verlaub, natürlich Quatsch. Beispielsweise Klaus Zeyringer hat in Fußball – eine Kulturgeschichte gezeigt, wie faszinierend dieses Spiel auch ganz ohne Brimborium ist und wie vielfältig es dadurch unsere Welt geprägt hat. Bezeichnenderweise kommt Musik in seiner Analyse nur an einer einzigen Stelle vor, nämlich als es um die Debatten geht, ob Nationalspieler auch die Hymne mitsingen müssen.

Leue begeht den Fehler, den auch die – von ihm in You’ll Never Sing Alone immer wieder glorifizierten – Ultras begehen: Er vergisst, dass dies in erster Linie eine Sportart ist, nicht bloß ein Vorwand zur Selbstdarstellung der Fans. Er ignoriert, dass es bei der Faszination dieses Spiels im Kern um das Geschehen auf dem Rasen geht, nicht um das Geschehen auf den Rängen. Und er leugnet, dass man auch ein leidenschaftlicher Fußballfan sein kann, wenn man sein Verhältnis zur Lieblingsmannschaft oder sein Verhalten im Stadion eben anders definiert, als es die elitären und arroganten Ultras als alleingültigen Standard propagieren.

Die Corona-Zeit ist dafür ein gutes Beispiel. Leue stellt dar, wie sehr die Stadionatmosphäre für das „echte“ Fußballerlebnis gefehlt hat. Man kann aber durchaus auch anmerken: Die Konzentration auf das Spielgeschehen hatte ebenso ihren puristischen Reiz wie die Möglichkeit, Kommandos von Spielern und Trainern zu hören, wie es sonst nur bei Dorfclubs möglich ist, wo natürlich auch „echter“ Fußball gespielt wird, auch ganz ohne Choreos, Capos und Trubel auf den Rängen. Gerade diese Geisterspiele haben gezeigt, wie wenig konsistent die Ultra-Ideologie (und die These, Fußball funktioniere nur mit Fan-Gesängen) ist: Sie treten vermeintlich für eine Reduktion auf das Ursprüngliche ein, überhöhen stattdessen aber das Drumherum.

So zeigen gerade auch Leues Ausführungen (mindestens) drei wichtige Widersprüche auf, die Ultras bei ihrem Anspruch auf Alleinherrschaft über die Fankultur so gerne übersehen: Es waren keineswegs die Ultras, die Gesang im Stadion erfunden haben, vielmehr gibt es das gemeinschaftliche Singen beim Fußball schon deutlich länger. Ihre Versuche, den Support im Stadion zu pushen und vor allem zu steuern, widerspricht dem historisch gewachsenen Ideal, dass alle im Stadion einbezogen werden, dass Lautstärke am besten spontan entsteht und neue Lieder sich organisch verbreiten können. Nicht zuletzt ist den Ultras bei all ihrer Kritik an Kommerz und modernem Fußball offensichtlich nicht klar: Sie bringen erst das ins Stadion, was letztlich die Voraussetzung für die Vermarktung des Sports war, nämlich orchestrierte Emotionalität und bedingungslose Loyalität. Die Ultras sind nicht die Gegner, sondern die Ermöglicher von Kommerz, und Musik ist dabei ein ungemein wichtiges Schmiermittel.

Das beste Zitat stammt aus dem Vorwort von Thees Uhlmann: „Es ist ein schönes Gefühl, nicht allein zu sein. Besonders, wenn man gar nicht so richtig weiß, wo man selbst überhaupt hingehört.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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