Guns N’ Roses – „Live In Chicago“

Künstler Guns N’ Roses

Live in Chicago Guns N' Roses Kritik Rezension
„Live in Chicago“ zeigt Guns N‘ Roses auf dem Höhepunkt ihres Ruhms.
DVD Live In Chicago
Label Masterplan
Erscheinungsjahr 2006
Bewertung

Der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) hat den Begriff von der „Gleichzeitig des Ungleichzeitigen“ geprägt. Er meint damit Ereignisse, die sich zur selben Zeit ereignen, obwohl sie eigentlich gar nicht zusammen passen, scheinbar Anachronismen sind, sich ausschließen müssten.

Ein gutes Beispiel dafür ist Live In Chicago von Guns N’Roses. Die DVD (keine offizielle Veröffentlichung, sondern offensichtlich ein Konzertmitschnitt fürs Fernsehen, der von einer argentinischen Firma lizensiert wurde) fängt das Konzert der Band vom 9. April 1992 im Rosemont Horizon (der mittlerweile Allstate Arena heißt) in der Nähe von Chicago ein. Er zeigt Guns N’ Roses auf dem vermeintlichen Höhepunkt ihres Erfolgs: Ein halbes Jahr vorher hatten sie Use Your Illusion veröffentlicht, bestehend aus zwei Alben, die umgehend auf Platz 1 und 2 der US-Charts einstiegen. Insgesamt wurden bis heute 35 Millionen Exemplare davon verkauft. Die dazugehörige Tour lief zum Zeitpunkt der Show in Chicago seit rund einem Jahr, am Ende hatten Guns N’ Roses im Rahmen dieser Tournee fast 200 Konzerte in insgesamt 27 Ländern gespielt.

Ein Song wie Coma zeigt all den Wahnsinn und all die Virtuosität, zu der diese Band damals fähig war. Patience bekommt den lautesten Szenenapplaus des Abends und wird sehr stimmungsvoll. Wenn Leadgitarrist Slash sich zum Solo von November Rain auf das Klavier setzt, das Frontmann Axl Rose spielt, dann ist das beinahe ein ikonischer Moment – noch spektakulärer ist, wie originalgetreu sie das Lied live hinbekommen.

Entsprechend wird die Band von den knapp 20.000 Fans in der Halle gefeiert, entsprechend großspurig ist das Konzert aufgezogen. Die Bühne ist riesig, und Guns N’ Roses haben mächtig Spaß an dieser Größe: Axl Rose rennt oft wie von der Tarantel gestochen von links nach rechts und umgekehrt, sprintet vorwärts, rückwärts und seitwärts. Gitarrist Gilby Clarke (erst wenige Monate vorher als Ersatz für Izzy Stradlin zur Band gestoßen) scheint immer eine noch höhere Rampe zu finden, von der er springen kann. Zu Live And Let Die gönnen sie sich eine Bläsersektion, bestehend aus halbnackten Girls. Die gesamte Show ist fast drei Stunden lang (die DVD zeigt nur 79 Minuten davon, lässt die letzten zehn Lieder der Setlist einfach weg und zeigt auch davor ein paar Momente nur gekürzt).

Was einem totalen Triumph im Wege steht und Live in Chicago zu einem Beispiel für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen macht, ist die Tatsache, dass genau eine Woche nach Use Your Illusion ein Album namens Nevermind erschien. Dass Nirvana die gesamte Musikszene, vor allem in den USA, mit dieser Platte auf den Kopf stellen würden, zeichnete sich schnell ab. Integrität statt Bombast, Verweigerung statt Kommerz, Wut statt Hedonismus – man kann hier beobachten, dass Guns N’ Roses zumindest ahnen, dass sie möglicherweise ein Opfer dieses Paradigmenwechsels sein würden.

Spannend ist das vor allem, weil die Band keineswegs eindeutig auf der einen oder anderen Seite zu verorten ist. Es gibt hier ein paar verbliebene Momente des Hair Metal (nicht nur in der Frisur von Bassist Duff McKagan, der mit Attitude sogar ein Lied singen darf), der die 1980er Jahre geprägt hatte und von der neuen Alternative-Kultur vollends hinweggefegt werden sollte. Im riesigen Drumset von Schlagzeuger Matt Sorum oder im Prahlen und Posen des gut achtminütigen Double Talkin’ Jive mit seinem Wettbewerb von „Wer kann schneller, länger, lauter?“ findet man noch Elemente von dessen Leistungsethos, auch bei Guns N’ Roses anno 1992. Ein Song wie Mr. Brownstone klingt heute auch musikalisch nach einer verblühten Ära und wäre auch 15 Jahre vorher von Aerosmith schon in dieser Form vorstellbar gewesen.

Zugleich stand diese Band aber stets auch für Dreck, Chaos und eine Fuck-Off-Attitüde, die gar nicht so weit weg vom Ethos der neuen Alternative-Protagonisten war. Man kann das hier etwa in der zynischen Ansage („Of all the bands in the world, this is definitley one of them.“) erkennen, mit der ein Sprecher die Show eröffnet, und im schief gesungenen My Way desselben Sprechers, mit dem die Zuschauer am Ende nach Hause geschickt werden. Guns N’ Roses tun in diesem Konzert nichts, was man heute als Audience Engagement bezeichnen würde oder was den gängigen Stadionrock-Klischee-Gesten entsprechen würde.

Nicht zuletzt strahlen sie eine Gefährlichkeit und Fragilität aus, die in diesem Genre einmalig ist: Egal, wen aus dieser sechsköpfigen Band man genauer beobachtet – es ist keiner dabei, den man sich nicht gut in Sicherungsverwahrung vorstellen könnte. Civil War ist der Song, der eine weitere Facette zeigt, mit der sich Guns N’ Roses eher auf der Nirvana-Seite als meinetwegen in der Tradition von Van Halen platzieren: Sie platzen beinahe vor Aggressivität, aber es ist eine Aggressivität, die auf Frust und Angespanntheit basiert, nicht auf Machismo.

Frontmann Axl Rose hat die längst legendär gewordene Radlerhose an, zu Beginn kombiniert mit einer Lederjacke mit Madonna-Print auf dem Rücken, später mit Tarnhemd und Südstaaten-Jacke. Die Band gönnt sich ein paar Experimente wie das Rolling-Stones-Cover Wild Horses, das bis auf einen Refrain am Ende instrumental bleibt. Das Godfather Theme wird der größte Rampenlicht-Moment für Slash, der bei der Vorstellung der Band unmittelbar davor von Axl Rose noch vergessen (oder von den DVD-Machern herausgeschnitten) wurde, sich hier aber nachhaltig in Erinnerung bringt.

Sound- und vor allem Bildqualität von Live In Chicago sind mittelprächtig, neben dem fehlenden Schlussteil des Konzerts und den weiteren Kürzungen ist vor allem ärgerlich, dass mittendrin immer mal wieder die Einblendung „HIFI“ erscheint (und sich als unzutreffend erweist). Für Fans dürfte die DVD dennoch lohnend sein: Ein Song wie Welcome To The Jungle zeigt Guns N’ Roses in blendender Form und wird zum grandiosen Spektakel. Vor allem bringt die Show in Erinnerung, erst recht beim Blick auf den Niedergang der Band, der dann folgen sollte, wie großartig Axl Rose als Frontmann sein konnte. Mindestens 20 Momente innerhalb dieser 79 Minuten gibt es, in denen man nichts anderes denken kann als: Was für ein toller Schreihals!

Das komplette Konzert gibt es bei YouTube.

https://www.youtube.com/watch?v=6SlKqVJT9tI

Website von Guns N‘ Roses.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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