Künstler | Haftbefehl | |
Album | Das weiße Album | |
Label | Universal | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Ich will allen, die Das weiße Album bisher noch nicht gehört haben, gerne diese Arbeit ersparen. Es ist 43 Minuten lang und es handelt in erster Linie, so ist wohl auch der Titel zu verstehen, von Kokain. In der Hälfte der 14 Tracks finden sich sehr klare Bezüge auf das weiße Pulver. Manchmal muss es offensichtlich die eigene Manneskraft in Schwung bringen oder die Unfähigkeit überspielen, eine Frau ohne Drogen zu erregen (KMDF steht für „Koka macht dich feucht“), sehr oft geht es nur darum, dass Haftbefehl sich jetzt sehr viel davon leisten kann (wie in Für immer reich oder in Ice mit Gucci Mane), sogar wenn er in Liebeskummer und Selbstmitleid versinkt wie in Hotelzimmer, findet die Droge noch einen Weg in seine Lyrics.
Man erkennt an diesem ersten Absatz schon: Ich bin, wie schon bei den Beatles, nicht sehr angetan vom Weißen Album. Wo es hier nicht um Koks geht, stehen Gewalt, Waffen, Autos und Geld im Mittelpunkt. Frauen werden wie (nicht sehr hochwertige) Konsumgüter betrachtet. Den vom Feuilleton so gefeierten Mix aus verschiedenen Einwanderer-Slangs („Ich hab die Sprache verändert in diesem Land“, feiert Haftbefehl stolz und zutreffend in Trapking) findet man anderswo längst ebenso, und zwar – beispielsweise bei Haiyti – deutlich poetischer und intelligenter. Die Produktion von Bazzazian, der schon den Vorgänger Russisch Roulette (2014) betreut hat, will betont unmodern sein (hey, fast kein Autotune!) und gerät dabei regelmäßig in Gefahr, monoton und unoriginell zu werden. Morgenstern ist ein Beispiel dafür: Auch hier geht es um Gewalt als Weg, um möglichst viel Geld oder einen halbwegs respektablen Status zu erlangen, mit strenger Ü18-Attitüde („Ich hol dein Brain aus deinem doofen Schädel mit ’nem Poloschläger“) und einem extra-tiefen Bass und simpler Horrorfilm-Melodie als musikalischer Entsprechung.
Dass Teenager darauf abfahren, die kaum Haare am Sack haben, aber sich stark fühlen wollen, kann ich gut verstehen. Es leuchtet auch ein, wie Kids mit einem ähnlichen Hintergrund wie Haftbefehl (kurdisch-türkische Vorfahren, geboren als Aykut Anhan in Offenbach, Vater früh verloren, schlechter Umgang, Drogen, Ärger mit der Polizei) in ihm ein Beispiel für einen sehen, der es trotz solch schwieriger Ausgangsbedingungen geschafft hat – „es“ meint hier neben dem offen zelebrierten Kokainkonsum auch die Spritztour im Maybach oder die Schusswaffe, die stets zur Hand ist, ohne dass ihn dafür jemand ankacken könnte. Dass Kulturmagazinredakteure aus Akademikerfamilien diese Kombination aus Gangsta-Glamour, Kanak Sprak und der Sorte von hartem Kerl, vor dem sie früher ins Internat geflohen sind, faszinierend finden, mag man auch noch herleiten können. Aber wie irgendjemand, der Rap liebt, hier einen Guru erkennen kann, ist mir vollständig schleierhaft.
Nehmen wir Variante 1: Haftbefehl ist komplett authentisch, wie er in der Single Bolon betont: „Wir erleben, was wir reden.“ Er ist also ein Krimineller, der sich Frauen nimmt, wie er gerade Lust hat, krumme Dinger dreht, sich seine Hater notfalls mit der Knarre vom Leib hält und all den Stress und die emotionale Belastung, die damit einher gehen, nur durch Kokain-Betäubung ertragen kann. Dann ist diese Platte die sagenhaft langweile Entsprechung eines ziemlich aufregenden Lebens. Nichts klingt hier spektakulär oder nach Eroberungslust, viel mehr gibt es Selbstbeweihräucherung, die natürlich ein Grundprinzip des HipHop ist, aber doch niemals so sehr nach einem fetten 34-Jährigen auf der Couch klingen sollte wie hier. Mehr noch: Gleich in mehreren Tracks des Weißen Albums bricht Haftbefehl mit Rap-Credentials. 1999 Pt. 4 stellt wieder einmal heraus, dass er jetzt viel Geld hat, aber er ist hier nicht treu zur Hood, sondern ein Neureicher, der mit dem Leben und den Leuten von früher nichts mehr zu tun haben will, schließlich sogar so feige ist, dass er ihnen das nicht einmal ins Gesicht sagt, sondern sich am Telefon verleugnet. Depression & Schmerz, ein Duett mit seinem Bruder Capo und der schlimmste Moment dieser Platte, ertrinkt im Kitsch („Mein totes Herz schlägt schon lange nicht mehr / es starb an Depressionsschmerz“) und ist so peinlich, dass ein Lachanfall (statt des wohl erhofften Mitgefühls) die einzig denkbare Reaktion ist. Man sollte echte Gangster indes niemals auslachen müssen.
Nehmen wir Variante 2: Haftbefehl ist hier nur eine Kunstfigur. Aykut Anhan weiß, dass er nach mittlerweile fünf Top-10-Alben inzwischen ausgesorgt hat, nie mehr arbeiten und sich auch nie mehr prügeln muss. Eine Situation, wie sie RADW (das steht für: Rücken an der Wand) beschreibt, ist komplett fiktiv. Die Polizei kann er sich notfalls mit Anwälten vom Hals halten, als Vater zweier Kinder ist er neuerdings eher Papa Haft als Baba Haft. Er versucht aber, basierend auf den eigenen Erfahrungen seiner wilden Jahre, weiterhin Geschichten vom Leben auf der Straße zu erzählen. Wenn all das zutreffen sollte, dann sind diese Geschichten sagenhaft eindimensional und dumm. Dann nimmt er sich weder in seinen Themen die Freiheiten, die dieser Ansatz bieten würde, noch kann er irgendwo mit dem lyrischen Horizont aufwarten, den ein Großmeister des Genres zu nutzen wüsste. In diesem Fall bliebe auch der Widerspruch, dass Haftbefehl eine Kunstfigur erschaffen hat, deren einzige Legitimation ihre Betonung von Authentizität ist. Gerade seine unverkennbaren Versuche, über die Betonung von tief durchlittenem Rap-Schmerz statt unbeschwerter HipHop-Party so etwas wie Eigenständigkeit zu erlangen, wirken dann bloß eitel wie in der Sinnkrise von 1999 Pt. 6 (Gabriel vs. Luzifer) zum Abschluss des Albums. Der berechtigte Hinweis, dass dieser Widerspruch, zumal in Deutschland, bei vielen Rappern zu beobachten ist, sollte dabei keine Rechtfertigung sein, sondern Ansporn zu noch mehr unverwechselbarer Kunstfertigkeit, die es hier aber nirgends gibt.
Das bedeutet: Wenn Haftbefehl real sein soll, ist er ein ziemlich zahmer Chabo. Wenn Haftbefehl das Produkt einer künstlerischen Vision ist, dann von einem ziemlich unkreativen Künstler. Wie limitiert er als Texter und Rapper ist, zeigen auf dem Weißen Album ausgerechnet die Gastauftritte. In Conan x Xenia, einem der wenigen Tracks, die musikalisch zu packen wissen, wird er trotz des prahlerischen „Ich bin jung, ich bin wild, ich bin asozial“ von Shirin David an die Wand gestellt. Materia spielt in Papa war ein Rolling Stone mindestens zwei Ligen über ihm. Das Leben in der Blase (das meint sowohl den Koks-Rausch als Dauerzustand als auch die Tatsache, dass sich Haftbefehl hier mit Leuten umgibt, die zu ihm aufschauen oder ihn jedenfalls niemals stressen oder herausfordern werden) ist für das katastrophale Scheitern dieser Platte, die in ziemlich zerstückelten Sessions in Berlin, Frankfurt und Amsterdam entstanden ist, wohl der wichtigste Grund. 1999 Pt. 5 (Mainpark Baby) zeigt das deutlich, eine Zusammenstellung von Voicemails (also wohlgemerkt: Nachrichten-Monologen, bei denen ihm niemand dazwischenfunken oder gar widersprechen kann), die Haftbefehl an Bazzazian geschickt hat: „Bruder ich hör gerade das Album, ne. (..) Du bist einfach der krasseste Produzent. Weißt du, wie viel in dieser Platte steckt? In diesen Lyrics, (…) die ich dir schicke, Bruder? Weißt du, was dahintersteckt? Jedes Wort, jeder Satz ist wahr, Bruder.“ Es ist zu befürchten, dass er das glaubt.