Haiyti – „Speed Date“

Künstler*in Haiyti

Haiyti Speed Date Review Kritik
„Speed Date“ ist für Haiyti das dritte Album in zwölf Monaten.
Album Speed Date
Label Hayati Records
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Die Kommission, die von der Weltgesundheitsorganisation kürzlich nach Wuhan geschickt wurde, hatte bekanntlich die Aufgabe, den Ursprung der Covid-19-Pandemie aufzuklären. Es ist halbwegs gelungen, auch wenn das wissenschaftliche Ideal nicht erreicht wurde: eindeutig Patient*in Null zu identifizieren.

Was das alles mit Haiyti zu tun hat? Mit einigem Recht kann man die Hamburgerin, die in Berlin lebt, als so etwas wie die Patientin Null für sehr viele Trends betrachten, die sich dann mit enormer Wucht und Geschwindigkeit in der deutschen Musiklandschaft verbreitet haben. Wie eine Pandemie. Das beweisen auch die 25 Songs auf dem heute erscheinenden Speed Date wieder, ihrem dritten Album innerhalb eines Jahres. Wenn sich irgendwann in der Zukunft jemand durch die Nutzungsdaten von Spotify wühlen sollte mit der Fragestellung, wo all die Sounds hergekommen sind, die anno 2021 Deutschrap dominiert haben, wie Attitüden entstanden sind und neue Einflüsse für das Genre erschlossen wurden, dann müsste diese Person unweigerlich bei Haiyti landen. Anders als beim Coronavirus ist hier der Ursprung tatsächlich ein (Klang-)Labor, in dem die Zutaten von Techno bis Latin reichen und mit der unfassbaren Energie dieser Künstlerin zu immer wieder spektakulären Ergebnissen vermengt werden.

Der Titel Speed Date verweist nicht nur auf ihre enorme Produktivität und die Rasanz, mit der sich ihre Karriere seit dem 2015 selbst veröffentlichten Debüt Havarie entfaltet hat, sondern auch darauf, dass Haiyti diese Platte als ein “Affekt-Album” bezeichnet. Das bedeutet wohl einerseits, dass hier stets ein einziger Gedanke, eine momentane Stimmung oder auch eine bestimmte Formulierung als Ausgangspunkt für einen Track ausgereicht haben. Andererseits geht nicht nur die Produktion sehr schnell, sondern auch der Konsum: Sechs Tracks haben eine Spielzeit unter zwei Minuten, vier weitere nur knapp darüber. Das ist weit davon entfernt, ein Problem zu werden: In einem Song wie 2 Phones stecken in 102 Sekunden mehr Ideen als bei Haftbefehl in einem ganzen Album.

Boo eröffnet die Platte in einer Position zwischen Leben und Tod, Prahlen und Verunsicherung – und mit einem Bass, der wahrscheinlich an seiner eigenen Tiefe kollabieren würde, wäre die Frequenz nur ein Hertz niedriger. Lois Lane zeigt die stimmliche Vielfalt von Haiyti, Merlot (Wo bis du) kreiert eine tolle, sehr fragile Atmosphäre, in Hundertzehn (110) feat. Caney funktioniert ihr Sound hingegen ganz unmittelbar, wird enorm eingängig und packend. Auch Zahle es bar (feat. Skoob 102) wird, unter anderem durch eines der recht zahlreichen Gitarrensamples auf Speed Date, sehr straight, Entertainment sogar heavy und aggressiv.

“Ich liebe Pop. Aber ich bin gelangweilt von normalem Pop. Also habe ich meinen Pop kaputt gemacht”, sagt Haiyti über ihren Ansatz, und das hört man besonders deutlich in der Single Sterben, in der es um ein Dilemma geht: Sie würde gerne so sehr lieben wie das Gegenüber, aber sie schafft es nicht – ein Ungleichgewicht bleibt bestehen, unter dem sie vielleicht sogar noch mehr leidet als der Partner, der womöglich gar nichts ahnt von dieser Lücke, die da zwischen den tatsächlich vorhandenen Gefühlen und dem Ideal der totalen Hingabe klafft. Die Melodie des Tracks ist ebenso klasse wie ungewöhnlich und die Produktion eine perfekte Entsprechung einer Zerrissenheit, in der ihr trotzdem das Selbstvertrauen nicht verloren geht.

Dieses Reflektieren der eigenen Defizite, Dämonen und Versäumnisse ist natürlich weiterhin das ultimative Alleinstellungsmerkmal dieser Platte und es wird noch reizvoller dadurch, dass Haiyti in kreativer Hinsicht nicht den Hauch einer Schwäche zeigt. Sie hat auch auf Speed Date alles im Griff, sogar die eigene Zerbrechlichkeit.

In Bevor es endet bittet sie explizit um Beistand, nach wie vor eine Rarität im HipHop, Drama kreist um die Frage „Warum bin ich nur wie ich bin?“ und die Erkenntnis „Ich mache mir Feinde durch Charakter“, was in Breakdance bricht, sind natürlich nicht nur die Knochen, sondern ebenso das Herz. Der Ausweg daraus ist wieder einmal die Musik. „Alles ist möglich / daran glaub‘ ich wirklich“, heißt es in Wunder, fast als Credo könnte man die Zeilen „Trap-Star ein Leben lang, denn ab jetzt is eh egal“ in Milligramm begreifen.

Eine ganz entscheidende Qualität wird dabei vielleicht auch den Deutschrap-Forschern der Zukunft auffallen: Insbesondere im Trap geht der Trend dahin, die Stimme stark als Instrument zu begreifen. Die Texte neigen dann zur Lautmalerei, der Klang der Worte wird wichtiger als ihre Bedeutung (erst recht beim üppigen Einsatz von Auto-Tune), die Produktion wird wichtiger als die Poesie – so sehr, dass teilweise der Inhalt gar nicht mehr zu verstehen ist, wie es hier auch im Gastauftritt von Dr. Sterben in Nur Medizin zu beobachten ist. Das ist bedauerlich weit weg vom Ausgangspunkt von HipHop mit dem Streben nach cleveren Punchlines, Binnenreimen und Wortspielen. Haiyti vereint hingegen beides: einen hochmodernen Sound und eine enorme lyrische Qualität.

In einer der Verkleidungen im Video zu Gabba könnte Blümchen stecken.

Haiyti bei Instagram.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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