Künstler | Her | |
Album | Her | |
Label | Universal | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Es klingt wie eine Bandgeschichte aus dem Bilderbuch. Victor Solf und Simon Carpentier waren seit Schulzeiten befreundet, spielten zusammen in verschiedenen Bands und musizierten seit 2015 als Duo unter dem Namen Her. Gleich die ersten EPs sorgen für einiges Aufsehen, als dann ein Lied in einem Werbespot für Apple eingesetzt wird, öffnet das die Tür zu den großen Festivalbühnen und Chartplatzierungen, von denen sie immer geträumt hatten. Doch schon in dieser verheißungsvollen Phase war für die beiden aus Rennes ein Keim von Tragik angelegt: Simon Carpentier lebte im Moment des Durchbruchs seiner Band schon seit mehreren Jahren mit einer Krebsdiagnose. Den Trubel, einschließlich internationaler Auftritte, konnte er dann nur mit Schmerzen über sich ergehen lassen. Im August starb er, im Alter von 27 Jahren.
„Das ganze letzte Jahr war unglaublich hart, weil es Simon so schlecht ging“, sagt Victor Solf im Rückblick. „Es fiel ihm zum Beispiel wahnsinnig schwer, unsere Tour zu bestreiten – nur fand er eben auch, dass es wichtig war, damit weiterzumachen und Konzerte zu geben. Er wollte einfach nicht aufgeben, nicht aufhören. Sechs Jahre lang hat er mit dieser Krankheit gekämpft. Und eigentlich haben wir in dieser Zeit auch gar nicht so häufig über Krebs oder über den Tod gesprochen: Wir wollten stattdessen lieber über das Leben reden. Und jetzt, denke ich, ist es meine Aufgabe, diese Linie und diesen Ansatz weiter zu verfolgen. Mir fällt das echt schwer, aber ich tue mein Bestes – für mich und für ihn.“
Als Teil dieses Vermächtnisses betrachtet er die Pflicht, das Debütalbum von Her zu vollenden, auf dem einige der Tracks der frühen EPs enthalten sind, dazu viel Material, das ebenfalls schon weit gediehen war, als Simon Carpentier nicht mehr in der Lage war, im Studio zu arbeiten. „Die meisten Songs waren schon vorher fertig; sie brauchten nur noch etwas Feinschliff am Gesang, am Hintergrundgesang. Mir war wichtig, dass Simons Stimme, Simons Vision und sein Gitarrenspiel quasi unberührt bleiben und in der finalen Version wirklich genau so klingen, wie er das wollte. Daran habe ich gefeilt“, erklärt Victor Solf seine Arbeitsweise. „Es ist einfach extrem wichtig, dass dieses Album erscheint. Mir ist es nur dadurch möglich, seinen Tod zu verarbeiten. Das hier ist Musik für immer, fürs Leben.“
Das vielleicht größte Lob für das Ergebnis ist, dass die Platte diese dramatische Hintergrundgeschichte gar nicht braucht, um besonders zu sein. Immer wieder zeigt Her einen extrem geschmackssicheren Mix aus Soul, Electronic und HipHop wie in Five Minutes, dem Lied aus der Apple-Kampagne: Die Gitarre ist so einschneidend wie der Beat gelungen ist, aber alles wird eher subtil als plakativ eingesetzt. Den Minimalismus und die Transparenz, die beispielsweise die Musik von The XX so verlockend machen, findet man auch bei Her, beispielsweise in Quite Like. Dieses „Quite“ ist hier wirklich Prinzip, denn nirgends wird in diesem Lied das Absolute propagiert, gerade aus diesem Rest an Vorbehalt erwächst sein Reiz.
Es gibt auf dem Album auch ein paar Schwächen. Wenn Jamiroquai seine heimliche Vorliebe für Blues offenbaren würde, könnte etwas herauskommen wie das vergleichsweise mittelprächtige Wanna Be You. Auch Neighbourhood, das allen gut gefallen dürfte, die einst Roachford mochten, wäre konventionell, gäbe es da nicht diese außergewöhnliche Stimme von Simon Carpentier. Icarus eifert womöglich Prince nach, verirrt sich dabei aber in Richtung Muckertum und Angeberei – allerdings sorgt eine Zeile wie „You’re still a part of me / but on the other side“ natürlich für einen ziemlich dicken Kloß im Hals angesichts der Begleitumstände bei Her. Einen ähnlichen Effekt gibt es in Good Night: Wäre das Wort nicht verdorben durch so viele schlimme Sängerinnen, die mit einem Mangel an Kleidungsstücken ihren Mangel an Talent zu kaschieren versuchen, könnte man „sinnlich” zu diesem Lied sagen – auch wenn Zeilen wie „Don’t lose hope“ oder „Now it’s time to fight back / your light is dim / don’t let it go blind“, erst recht in diesem Kontext, eine alles andere als erotische Konnotation haben.
Ähnlich verträumt, schön und sanft sind die beiden Bonus Tracks Shuggie und Together sowie das behutsame Blossom Roses, dessen verführerischer Refrain sogar Schlafzimmerpop-Könige wie Terence Trent D’Arby oder Sadé neidisch machen dürfte. Das abstrakte, sogar ein wenig experimentelle On & On hingegen hat eine spürbare Aggressivität und bietet zudem zwei Strophen mit Rap auf Französisch. Swim unterstreicht noch einmal, wie zentral der rauchige Gesang von Simon Carpentier für die Musik von Her ist: Es wirkt zunächst, als sei es keine große Kunst, mit einer so eindrucksvollen Stimme einen guten Song hinzubekommen, aber das Talent liegt natürlich gerade (auch) darin, ein so passendes Umfeld für diese Stimme zu schaffen, das genug Abwechslung ermöglicht, ohne abzulenken.
Die Single We Choose war der erste Song, den Carpentier und Solf als Her zusammen geschrieben haben, passend dazu eröffnet der Song nun die Platte. „Wir schrieben ihn genau an dem Punkt, als gerade Schluss war mit unserer vorherigen Band. Wir wollten damit ein richtiges Statement machen: dass man die Hoffnung nicht verlieren darf, unbedingt an dem festhalten muss, was man liebt. Wir arbeiteten damals jeden Tag an neuen Ideen, und dieser Song stach einfach heraus, weil es bei uns ja auch ums Festhalten und ums Weitermachen ging – schließlich gab es damals auch Leute, die dachten, wir würden nun ganz aufhören nachdem ja Schluss war bei der anderen Band. Nun, wir haben nicht aufgehört“, sagt Victor Solf. Das Lied, das mehr als eine Minute lang fast acappella bleibt, wird sehr eindringlich und einnehmend, die Zeile „I think we could do anything“ bekommt in der Tat den Charakter eines Statements, aber nicht durch Bombast, sondern durch Intensität. Auch die Botschaft von We Choose ist exemplarisch für Her, sagt Solf, der die Band auch nach dem Tod seines Kollegen weiterführen möchte: „Selbst wenn die Dinge schlecht stehen, gibt es immer noch eine Sache – die Hoffnung. Der Song ist quasi der Prolog zum nächsten Kapitel. Einem Kapitel, das hoffentlich so weitergeht, wie Simon sich’s gewünscht hätte.“