Künstler*in | HIDE | |
Album | Interior Terror | |
Label | Dais Records | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung | Foto oben: (C) Cargo Records / Maria Isaeva |
Würde man eine Geschichte des Rechts auf körperliche Unversehrtheit schreiben, könnte die wahrscheinlich mit den „habeas corpus“-Regelungen in der Petition Of Rights im Jahre 1628 beginnen. Von einem Happy End dieser Geschichte sind wir aber auch knapp 400 Jahre später noch weit entfernt. Es wird gefoltert und geprügelt, es wird misshandelt und vergewaltigt. Die bildende Künstlerin Heather Gabel und der Perkussionist Seth Sher, die beiden Personen hinter HIDE, können davon ein Liedchen singen. Und sie tun es auf Interior Terror auch.
Allerdings sollte man einschränken: Von „Liedern“, gar in der verniedlichten Form, kann bei diesem Duo aus Chicago keine Rede sein. Es gibt in den elf Stücken keine Akkorde, keine Melodien und keine Harmonie. Vielmehr arbeiten sie mit einem Sound im Grenzbereich zwischen elektronischer Musik und Industrial, den man beispielsweise von Acts wie Numb oder meinetwegen auch Die Antwoord kennt: Die Beats sind verfremdet, die Lyrics sind edgy, Rest der Musik klingt wie die Geräusche, die entstehen würden, ließe man einem Zweijährigen freien Lauf in einer Großküche.
Die Besonderheit bei HIDE ist, dass ihre Beats wirklich heftig verfremdet sind und die Geräusche – teilweise aus selbst angefertigten Field Recordings bestehend – wirklich abgefahren und im besten Sinne unerhört sind. So erklingt in Nightmare eine Terror-Trommel, in Price Of Life meint man Scherben klirren zu hören und der Laff Track bietet eine gespenstische Kombination aus Kichern, Giggeln und Lachen. Irgendetwas in Do Not Bow Down klingt wie eine Schreibmaschine, die nur feministische Manifeste schreibt, und zwar auf Granit und mit den Skeletten von Inquisitoren als Typenheber. Flag zeigt, dass Monotonie als Stilmittel für diese Band genauso wichtig ist wie Brutalität, Spit wird durch einen ungeduldigen und unbarmherzigen Bass zum Highlight.
Der entscheidende Pluspunkt von Interior Terror sind allerdings die Texte. Denn die sind nicht nur tatsächlich edgy, sondern haben auf diesem Album auch ein klar erkennbares Leitmotiv. Es ist die besagte körperliche Unversehrtheit, mit der sexuellen Selbstbestimmung als besonders schützenswerter Ausprägung.
Das ist nicht ganz verwunderlich: Schon 2016 widmeten HIDE ihr Album Black Flame der 27-jährigen Iranerin Reyhana Jabbari, die sich gegen einen Vergewaltigungsversuch zur Wehr setzte, den Angreifer dabei angeblich tötete und schließlich zum Tode verurteilt und gehängt wurde. Auch das im Jahr darauf erschienene Castration Anxiety verweist schon im Titel auf dieses Sujet. Zwei Stücke auf dem neuen Album zeigen diesen Schwerpunkt ebenfalls sehr explizit. Der Titelsong bietet zum Auftakt einen Drone, etwas Metallisches und dann die Wörter „I am not“, die viermal wiederholt werden, bevor die Auflösung kommt, was die Person hinter dieser Stimme denn nun genau nicht ist: „I am not my body.“ Dieses „My body“ wird langgezogen und mit so viel Ekel und Gift in der Stimme übergossen, wie es Johnny Rotten auch nicht besser hinbekommen hätte.
Das zweite Beispiel ist Daddy Issues. Im von einer männlichen Computerstimme vorgetragenen Text beschreibt der Vater eines jugendlichen Sexualstraftäters, wie sich die Tat auf seinen Sohn auswirkt. Die Worte sind authentisch und wurden im Verfahren gegen einen damals 20-jährigen Stanford-Studenten vorgebracht. Der eigentlich stets so anständige und fröhliche Junge esse kaum noch, lache nicht mehr, könne nicht mehr das Leben verwirklichen, von dem er geträumt hat. Er sei für alle Zeiten gebrandmarkt. Dies sei ein verdammt hoher Preis für „20 seconds of action“. Natürlich muss sich diese Täter-Opfer-Umkehr für die junge Frau, die er vergewaltigt hat, wie Hohn anhören. Ihr Leid ist erst ganz am Ende zu erahnen, für wenige Sekunden, in denen man Schreie und Wimmern hört. Das Stück ist damit so, wie Musik dieses Genres nur in den allerbesten Fällen wird: erschütternd, verstörend und entlarvend.