Hingehört: 1000 Gram – „Dances“

Künstler 1000 Gram

Proto-Indie für die späten Stunden: Das zweite Album von 1000 Gram ist zauberhaft.
Proto-Indie für die späten Stunden: Das zweite Album von 1000 Gram ist zauberhaft.
Album Dances
Label Fixe
Erscheinungsjahr 2014
Bewertung

„Am besten wäre es, wenn jeder Hörer des Albums spontan durch seine Stadt tanzt und andere Leute anstachelt, mitzutanzen“, sagt Moritz Lieberkühn, Frontmann von 1000 Gram, über die Zielsetzung für die zweite Platte des deutsch-schwedischen Quartetts. Man sollte angesichts dieses Vorhabens aber keine spektakulären Paraden mit Tambourmajor oder fein durchchoreografierte High-School-Musical-Performances erwarten. Nicht einmal ein modisch fragwürdiges Stelldichein wie im Video zu Dancing In The Street dürfte von diesem Werk angestoßen werden. Die Musik auf Dances regt eher etwas anderes an, wie gleich der erste Song Really Need Someone beweist. Nämlich die Art von Tanz, die man zum letzten Lied das Abends vollführt. Torkelnd, im Kampf mit Rausch, Müdigkeit und dem eigenen Gleichgewicht, nicht mehr ganz im Takt. Aber doch voll und ganz versunken in der Musik und voller Hoffnung, dass die Nacht noch irgendein Glück bringen wird, wenn der DJ gleich seine Sachen zusammenräumt.

Diese Trägheit, die auf erstaunliche Weise nur einen Nanometer von der Euphorie entfernt zu sein scheint, prägt die Musik von 1000 Gram, und das ist eine verdammt reizvolle Konstellation. Great Divide besingt einen Abschied, der vielleicht bereut wird, wenigstens ein kleines bisschen, zu feinstem Gitarrensound mit etwas Americana-Flair. A Home Outside Of Me beginnt mit feinem, verträumten Picking, bietet dann komplexe Rhythmen und ein geheimnisvolles Break mit Stimmen aus der Unterwelt. Anti-Hyzer ist liebestrunken und sich zugleich bewusst, wie gefährlich und vergänglich dieser Zustand ist. In New Lab gibt es tatsächlich so etwas wie Unbeschwertheit, zumindest bis die leicht betrübte Stimme von Moritz Lieberkühn hinzu kommt. Am Ende ist der Song dann wirklich ausgelassen, auch mit Gesang.

Diese Stimme, für die man töten könnte. weil sie so sehr den Geist von Proto-Indie (meinetwegen: Nada Surf, The Shins, Dinosaur Jr) in sich trägt, ist ein großer Trumpf, doch Alexander Simm (Gitarre), Jacob Öhrvall (Bass, Synthies) und Volker Wendisch (Schlagzeug) haben natürlich ebenfalls ihren Anteil am Gelingen von Dances. Vieles ist auf dem Nachfolger des Debüts Ken Sent Me live im Studio entstanden, das Internet half ein bisschen mit, um die Overdubs und den Mix zwischen Schweden und Deutschland zu ermöglichen.

Wie sehr sich 1000 Gram mittlerweile gefunden haben, zeigt die Platte immer wieder, am deutlichsten wird es vielleicht im Rausschmeißer Click Your Heels: Es ist das Lied, bei dem sie sich am meisten erlauben, ihre Könnerschaft in den Vordergrund treten zu lassen, aber auch hier, ohne dass sie jemals zum Selbstzweck würde. Ein tolles Album ist Dances nicht nur, weil es viele großartige Songs enthält, sondern auch, weil selbst die etwas weniger großartigen dazu beitragen, dass die Platte als Ganzes perfekt funktioniert, mit reizvollem Spannungsbogen und dem richtigen Maß an Abwechslung.

Geek Pop wird rabaukig, mit Lust auf Lärm und feinem Melodie-Gespür, Don’t Get Caught enthält ein paar Reggae-Andeutungen. Anna Roxenholt (New Found Land, sie hat außerdem das Artwork für Dances gestaltet) steuert zu Talk Sense, das mit großer Romantik und einem mächtigen Refrain beeindruckt, eine geschickt versteckte zweite Stimme bei, wie einen unheilvollen Schatten zum Gesang von Lieberkühn. I’d Pilgrim To Anything hat viel Energie und Tempo, wird mitreißend in der Stophe und sogar himmelstürmend im Refrain. „Unsere Vorbilder kommen aus der Zeit, als Independent noch Alternative hieß,“ stellt Moritz Lieberkühn klar – und dieser Song zeigt, dass er damit auf Bands wie Sonic Youth, Fugazi oder Pavement verweist.

Das beste Lied ist Out In An Instant. „This is going nowhere / I know it feels so damn right at times / when it’s calling out for me“, singt Lieberkühn mit viel Leidenschaft, begleitet von Gänsehaut-Gitarren und einer einfühlsamen Rhythmus-Sektion. Da ist es wieder, das Gefühl vom Tanz zum letzten Lied des Abends. Irre schön.

Tanzen kann auch ein Bauch: das Video zu Really Need Someone.

Homepage von 1000 Gram.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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