Künstler | Arcade Fire | |
Album | Reflektor | |
Label | Capitol | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Ich weiß nicht, wie groß der Einfluss der Maya-Kultur in Kanada ist (wo Arcade Fire leben) oder in Haiti (wo ihre Wurzeln liegen). Selbst dann, wenn er sehr groß sein sollte, haben Arcade Fire mittlerweile aber wohl mitbekommen: Der Weltuntergang ist ausgefallen. Und das führt auf Reflektor, ihrem vierten Album, zu einem erstaunlichen Effekt: Arcade Fire haben Spaß!
Das erste Lied des Doppelalbums ist der Titelsong, zugleich die Vorab-Single. Und die erste Assoziation lautet: Disco! Das ist an sich nicht weiter erstaunlich in einem Jahr, in dem beispielsweise Daft Punk diesen Sound wieder modern gemacht haben. Aber auf einer Platte von Arcade Fire ist dieses Genre ein Schock. Die Kanadier haben ein knappes Jahrzehnt damit verbracht, das achtköpfige Menetekel der Rockwelt zu geben, sie waren die Tempelritter im Kampf gegen Oberflächlichkeit und Hedonismus. Jetzt kommt Reflektor, mit einem einem Beat irgendwo zwischen Blondie und The Rapture. Régine Chassagne haucht ein paar französische Zeilen, Kid Koala hat ein Sample beigesteuert, am Ende singt David Bowie im Hintergrund. Und Win Butler ist zum Finale des Songs vollkommen außer Atem – nicht aus religiösem Eifer, aus leidenschaftlicher Empörung, wie man das bisher gewohnt war, sondern womöglich einfach, weil er getanzt hat (bei einem Geheimkonzert Anfang September in Montreal soll Butler übrigens tatsächlich getanzt haben, und zwar Salsa (!) in einer Tigermaske (!!)).
Damit nicht genug der Überraschungen: We Exist kommt mit einem Bass daher, den man (Gott bewahre!) als eine Referenz an Daddy Cool auffassen könnte. Auch in You Already Know ist der Bass ausgelassen und bestens gelaunt, und er schafft es, alle anderen Instrumente mitzureißen. Normal Person wird trotz seines piepsigen Gitarrenriffs kraftvoll und aufregend, Joan Of Arc, das die erste von zwei CDs von Reflektor abschließt, ist zunächst für ein paar Takte lang Punkrock, bevor sich ein Krautrockbeat herausschält und ein Refrain, der kein bisschen nach Scheiterhaufen klingt, sondern nach Widerstand, Selbstbestimmung, Aufruhr und Stolz.
Natürlich liegt es nicht am ausgefallenen Weltuntergang 2012, dass Arcade Fire plötzlich den Optimismus entdeckt haben. Viel eher dürfte schon Produzent James Murphy einen gehörigen Anteil daran haben. Der Ex-LCD-Soundsystem-Mann („Ich dachte, das sind alles supertalentierte Typen. Brauchen die wirklich noch einen, der seinen Senf dazugibt?“, war seine erste Reaktion, als Arcade Fire ihn baten, Reflektor zu produzieren) hat schon immer besonders gerne die Grenze zwischen Rock und Dance, Club und Arena pulverisiert, und es gelingt ihm auch hier. Here Comes The Night Time ist ein gutes Beispiel dafür, es klingt wie die Sorte intelligenter Tanzmusik, die man beispielsweise von den Gorillaz kennt (die Murphy auch schon mal produziert hat), und es klingt durch und durch anders als alles, was man bisher von Arcade Fire gehört hat. Die Steel Drums könnten nicht sonniger sein, zwischendurch wird das Lied zu einem richtigen Karneval und Win Butler lässt sich sogar zu einer blasphemischen Textzeile („When there’s no music in heaven / then what’s it for?“) hinreißen. Wenn er immer wieder „Here comes the night time“ singt, dann ist darin nicht nur eine Drohung zu erkennen, sondern auch ein bisschen Vorfreude auf das Nachtleben.
Natürlich haben sich Arcade Fire für Reflektor nicht komplett umgekrempelt. Wie ihre letzten Werke kann man auch Reflektor als Konzeptalbum begreifen, einzelne Figuren und Zeilen tauchen in mehreren Tracks auf. Natürlich steckt auch Reflektor voller düsterer Metaphern, geradezu alttestamentarischer Wortgewalt und einer Wucht, die sich zum guten Teil aus der Empörung über die Welt speist. Der unheilschwangere Dub Flashbulb Eyes ist ein Anzeichen dafür, und der zweite Teil dieses Doppelalbums beginnt deutlich dunkler. „I hurt myself again / along with all my friends“, singt Butler da in Here Comes The Night Time II mit einer Stimme, die gebrochen und verloren klingt wie die von Neil Young. Spätestens wenn im folgenden Awful Sound (Oh Eurydice) der Chor in diesem hymnischen Quasi-Gospel die Zeilen „I know there’s a way / we can leave today“ anstimmt, ist aber klar, dass auch CD2 nicht die Doomsday-Hälfte dieses Albums werden wird.
It’s Never Over (Hey Orpheus) klingt, bis der Gesang anfängt, sogar nach Franz Ferdinand. Porno setzt auf einen (man wagt kaum, das laut auszusprechen) angedeuteten Neptunes-Beat, und klingt ein wenig nach Phoenix (nur eine Million Mal intensiver) und nach Depeche Mode (nur mit einer Million Mal mehr Klasse). Auch hier lässt sich ein Umdenken erkennen, beinahe gar der Versuch, sich zum Optimismus zu zwingen. „Sometime, boy, they’re gonna eat you alive / but it’s never gonna happen now“, singt Win Butler, und auch in den anderen Textzeilen steckt die Aussage: Alles ist, global betrachtet, vielleicht schrecklich wie eh und je, aber für den Moment kann man das eben auch ausblenden. Für genau solche Lieder wie Afterlife wurde das Wort „Hit“ erfunden, und es ist sehr wohltuend, dass sich der Track in keiner Sekunde gegen diese Bezeichnung wehrt. Am Ende steht mit Supersymmetry eine Ballade, die wohl die zentrale Botschaft für die Neuerfindung von Arcade Fire enthält: Seine Stimmung und seinen Blick auf die Welt hat man selbst in der Hand, man kann sich fast immer gut fühlen, wenn man das nur will.
James Murphy und Arcade Fire haben die Situation umgekehrt, die es einst bei Josh Homme und den Arctic Monkeys gab: Sie läuten ein ganz neues Kapitel ihrer Karriere ein, mit vielen neuen Einflüssen und reichlich Überraschungen, ohne jedoch den Charakter der Band zu verwässern oder ihre wichtigsten Stärken aus den Augen zu verlieren. Und diese Stärken sind in verwandelter Form auch auf Reflektor unverkennbar. Die Streicher (erneut unter der Regie von Owen Pallett aufgenommen) sind bloß nicht mehr die Mahner an den Rachedurst des Himmelreichs, sondern Wegweiser dorthin. Die Chöre sind keine Stimmen aus der Unterwelt mehr, sondern Klänge der Hoffnung. Und die Rhythmen sind nicht mehr Vorboten der Apokalypse, sondern eine Aufforderung zum Tanzen.
Er tanzt! Mit der Jacke von Brandon Flowers!
http://www.youtube.com/watch?v=z5cWbYeBKSY