Künstler | Blur | |
Album | The Magic Whip | |
Label | Warner | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
Es scheint nichts Besonderes zu sein. Eine Band (Blur) ist auf Welttournee, hat vier Tage frei (im Mai 2013) und nutzt die Gelegenheit, um ins Studio zu gehen (in Hongkong). Später holen sie den Produzenten hinzu, mit dem sie schon oft erfolgreich zusammengearbeitet haben (Stephen Street) und basteln aus den Ergebnissen der Jam-Session ihr neues Album (The Magic Whip). Keine große Sache, eigentlich.
Wie besonders The Magic Whip allerdings wirklich ist, zeigen drei Tatsachen. Erstens: Als Gitarrist Graham Coxon die Band 2002 verließ, geschah das keineswegs einvernehmlich. Als er zu den Aufnahmen für Think Tank das Studio betreten wollte, teilte ihm der Manager der Band mit, dass die anderen Mitglieder ihn dort nicht mehr sehen wollten. Fünf Jahre lang lag die einstige Freundschaft zu Frontmann Damon Albarn danach auf Eis.
Zweitens: Coxon hat seitdem acht Soloalben herausgebracht (also mehr Platten, als Blur bisher in ihrer gesamten Karriere veröffentlich hatten). Sein Bandkollege Damon Albarn kommt, zählt man sein Soloalbum, das Gorillaz-Oeuvre und seine zahlreichen weiteren Projekte zusammen, im selben Zeitraum sogar auf zehn Longplayer. Schlagzeuger Dave Rowntree arbeitete derweil als Anwalt und kandidierte fürs britische Unterhaus. Bassist Alex James zog sich auf eine Farm zurück, um seinen eigenen Feinschmecker-Käse zu produzieren. Alle Mitglieder des Quartetts waren also auch ohne Blur mehr als ausgelastet und augenscheinlich zufrieden.
Drittens: Wenn morgen die neusten Charts in England bekannt gegeben werden, wird The Magic Whip mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit das sechste Nummer-1-Album von Blur werden. In den ersten drei Tagen seit Erscheinen hat die Platte mehr Exemplare verkauft als die Tonträger auf Platz 2, 3, 4 und 5 zusammengenommen.
Das zeigt, wie intensiv das achte Studioalbum von Blur von den Fans herbeigesehnt wurde. Hört man The Magic Whip, erkennt man aber auch: Die Band ist über das Zustandekommen dieser Platte mindestens ebenso glücklich.
Es ist kein spektakuläres Album, keine orgiastische Entladung eines zwölf Jahre währenden kreativen Samenstaus. Man merkt, dass die Mitglieder nicht ewig lang ihre besten Ideen für diesen befreienden Moment aufgespart haben, sondern auch zwischendurch die Möglichkeiten genutzt haben, ihre Songs unter die Leute zu bringen. Aber man merkt auch, wie sehr sie es genießen, wieder Blur zu sein.
Die Single Lonesome Street eröffnet das Album mit einem Riff wie aus besten Modern Life Is Rubbish-Zeiten und einem Gesang, der ebenfalls den dazugehörigen Biss aufweist. Dazu kommen Reminiszenzen, die auf David Bowie oder die Kinks verweisen, und eine Komplexität, wie sie Popsongs anno 2015 kaum noch kennen. Thought I Was A Spaceman hat später eine ähnlich tolle Dramaturgie, das druckvolle I Broadcast ein mindestens ebenso gelungenes Riff.
There Are Too Many Of Us bekommt eine gute Dosis The Universal-Theatralik. My Terracotta Heart entpuppt sich als eine zauberhafte Ballade, New World Towers besitzt die herbe Melancholie, die Damon Albarn auch bei The Good, The Bad And The Queen so gerne verströmt hat. Auch Pyongyang ist wieder so ein Lied, das beweist: Niemand kann so fantasievoll den Weltschmerz vertonen wie Blur.
Es gibt ein paar Momente auf The Magic Whip, in denen man an die Reunion-Fantasien von Kraftklub denken muss: Natürlich wäre es schön, wenn Noel wieder Songs für Liam schreiben würde. Aber dass Blur wieder vereint sind und neue Musik machen, ist sogar noch schöner. Denn Noel Gallaghers Gitarre klingt auch in seinem Solowerk brillant und Liam Gallagher kann mit seiner Stimme ohnehin jedes Lied adeln, selbst das mittelprächtige Material von Beady Eye. Aber die Gitarre von Graham Coxon klingt, bei allen Highlights, die sein Solowerk zu bieten hat, nie so gut wie im Blur-Kontext, und der Gesang von Damon Albarn niemals so ergreifend wie in dieser Band. Blur ist für beide das Zuhause, und das Gefühl von Heimkehr ist der größte Trumpf dieses Albums.
Der Sound von Blur wird auf The Magic Whip eher wiederbelebt und behutsam aktualisiert, als dass er revolutionär weiterentwickelt würde. Go Out hat ein paar Dub-Einflüsse und eine Bitterkeit, wie man sie sich von PiL vorstellen könnte. Der entspannte Reggae-Beat von Ghostship lässt erahnen, dass die Vorstellung von The Clash in der Hängematte gar nicht so abtörnend ist. Mirrorball stellt am Ende des Albums eine Western-Gitarre ins Zentrum. Das verspielte Ice Cream Man hätte auch zu den Gorillaz gepasst und fasziniert mit einer fast unverschämten Selbstverständlichkeit. Der Song klingt beinahe so, als wäre er eine B-Seite in einem Jahrzehnte währenden Kontinuum von Blur-Veröffentlichungen, nicht ein Song auf einem Album mit dem ersten neuen Material seit zwölf Jahren.
Natürlich ist dieses Comeback keine ganz große Sensation mehr, schließlich haben Blur schon 2009 wieder gemeinsame Konzerte gespielt, 2012 zwei neue Songs für die Schlusszeremonie der Olympischen Spiele in London beigesteuert und auch danach allerorten live begeistert. Trotzdem geht einem bei The Magic Whip als Blur-Fan das Herz auf vor Dankbarkeit, dass es diese Magie wieder gibt, auch im Albumformat.
Was allerdings fehlt, ist ein herausragender Song. Ong Ong kommt diesem Ziel am nächsten, ausgerechnet mit reichlich Lalala-Chorgesang, Man könnte so viel betonte Ausgelassenheit für albern halten, aber natürlich greift dieses Argument nicht bei einer Band, deren Mitglieder sich zwischenzeitlich mächtig verkracht und dann jahrelang gegenseitig ignoriert hatten. „I wanna be with you“, singt Damon Albarn jetzt, und natürlich ist die Doppeldeutigkeit dieses Bekenntnisses gewollt.
The Magic Whip ist ein Album, das kein großes Spektakel und keine Kampfansage sein will, sondern in erster Linie die Botschaft verbreitet: Wir sind wieder da, alles ist wieder gut. Es ist ein Album, das einfach sehr Blur ist. Im Prinzip ist es eine Platte, die auch 2005 hätte erscheinen können, als logischer Nachfolger für Think Tank. Wer das nach zwölf Jahren Wartezeit enttäuschend findet, hat dieses Comeback nicht verdient.