Bosse – „Engtanz“

Künstler Bosse

Cover des Albums Engtanz von Bosse Kritik Rezension
Für die Songs von „Engtanz“ hat Bosse zunächst Ruhe und Abstand gesucht.
Album Engtanz
Label Vertigo
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

Der sehr geschätzte Kollege Ayke Süthoff hat beim sehr geschätzten Fachportal Noisey gerade ein großes Lamento über den desaströsen Zustand des Deutschpop verfasst. Tenor: „Alles klingt gleich, alles klingt gleich schlecht. Es ist eine größere Kunst, die Songs auseinanderzuhalten, als sie zu schreiben. Und genau das stellt das Verhältnis Künstler zum Rezipienten vollkommen auf den Kopf.“

Das ist sehr gut erkannt und weitgehend zutreffend. Bezeichnenderweise ist sein Text eine gute Woche vor dem sechsten Studioalbum von Axel Bosse erschienen. Der veröffentlicht heute Engtanz und liefert damit nicht nur ein gutes Gegenargument, sondern bietet auch ein paar Ansatzpunkte für die Ursachenforschung angesichts der Deutschpop-Malaise.

Meine These: Alle, die deutschen Pop machen und mit Pop sozialisiert wurden, neigen zu Stillosigkeit und Schlager. Alle, die deutschen Pop machen und (wie Bosse) mit Indie sozialisiert wurden, haben – sofern sie irgendwann die Berührungsangst mit dem Konzept „Pop“ ablegen – deutlich bessere Chancen, brauchbare Musik abzuliefern. Siehe beispielsweise: Kettcar, Tocotronic, auch Madsen.

Dass Bosse dem Pop zuzuordnen ist, lässt sich längst nicht mehr bestreiten – egal, nach welchen Parametern man diesen Begriff definiert. Mit dem Vorgänger Kraniche hat er vor drei Jahren erstmals Goldstatus erreicht, zudem den Bundesvision Song Contest gewonnen. „Das alles war unglaublich intensiv, schön und berauschend. Nach all dem ein neues Album zu schreiben, war eine ziemlich große Herausforderung. Ich musste erstmal Ruhe finden, verarbeiten und schauen, worüber es sich lohnt zu singen“, sagt der gebürtige Braunschweiger. „Nach fünf Alben hat man schon viel gesagt. Die einzige Chance, die ich in den Texten sah, was, noch tiefer zu gehen und den Zustand zu beschreiben, in dem ich mich befinde. Meine Jugend ist vorbei und die letzten Jahre waren geprägt von großen, tollen Dingen, aber auch von Trauer und Abschieden. Es ging mir darum, mich dem zu stellen und auf volle Konfrontation mit mir zu gehen. Eng zu tanzen mit mir selbst, den anderen und dem Leben.“

Wie sehr das nach Pop klingen kann, zeigt beispielsweise der Auftakt Außerhalb der Zeit mit einem großen Refrain im Stile von Ellie Gouldings Love Me Like You Do und noch einem Trompetensolo obendrauf. Insel ist ein Sehnsuchts-Song, den man sich auch von Philipp Poisel vorstellen könnte. Blicke stellt auf sehr charmante Weise die klassische Liebeslied-Frage: Sind wir vielleicht füreinander bestimmt? Und fehlt vielleicht nur ein Kuss, um die Antwort herauszufinden?

Dem stehen auf Engtanz sehr reife Werke gegenüber wie Steine, das textlich und musikalisch (Orchester!) enorm erwachsen daherkommt und eines von zwei Liedern auf diesem Album ist, die Bosse mit Judith Holofernes getextet hat. Wir nehmen uns mit macht deutlich, wie selbstverständlich es erscheint, dass man nicht raus kann aus seiner Haut, seiner Biographie und seinen Ängsten, wie schwer das aber trotzdem zu erkennen ist.

Mordor, das perfekt zu Thees Uhlmann passen würde, enthält ein bisschen Romantik des Nachtlebens und viel von der Erkenntnis, dass man dafür eigentlich schon zu alt ist. Dein Hurra handelt vom Aufmuntern, das manchmal gar keine Clownerie braucht, sondern nur Füreinanderdasein. Ahoi Ade schließt die Platte ab als ein Stück über Trauer, Abschied und Trost, das aber genug Fragen offen lässt, um nicht zu offensichtlich und damit kitschig zu werden.

Geschrieben wurden die Engtanz-Songs in Amsterdam, Berlin, Hamburg, Spanien und Italien, produziert hat erneut Philipp Steinke (Boy). Am größten ist sein Anteil in Krumme Symphonie, das rund um Elektrobeats, schöne Streicher und einen Rap von Casper aufgebaut ist und davon handelt, wie schwer es auch mit 30+ noch ist, im Leben einen Kompass oder gar einen Anker zu finden. Symptomatisch dafür ist die Frage „Wer leiht mir einen roten Faden?“

Wer jetzt befürchtet, Bosse mache nur noch Musik zum Weintrinken und Grübeln am Kamin, wird auf diesem Album gleich mehrfach eines Besseren belehrt. „Irgendwann werde ich eine Platte machen, wo ich nur am Klavier sitze. So Udo-Jürgens-mäßig. Aber dafür habe ich immer noch zu viel Bewegung in mir“, sagt der 35-Jährige und Songs wie das spielerische Nachttischlampe oder das großartige, erstaunlich rabiate Immer so lieben belegen das.

Über flache Reime, inhaltsleere Lyrics und fehlenden Anspruch wetterte Ayke in seinem Beitrag über die Spirale des schlechten Geschmacks. Er hat recht, aber Bosse zeigt hier – ohne natürlich selbst als „Retter des Pop“ auftreten oder irgendeine andere Programmatik vertreten zu wollen –, wie einfach ein Gegenmittel aussehen kann: schöne Lieder, die etwas bedeuten.

Bosse geht seinen Weg, im Video zu Immer so lieben.

Demnächst ist Bosse auf Tour.

29.02.2016             Mannheim, Capitol

01.03.2016             CH-Zürich, Exil

03.03.2016             München, Freiheizhalle (ausverkauft!)

04.03.2016             AT-Graz, PPC

05.03.2016             AT-Wien, Szene

07.03.2016             Nürnberg, Hirsch

08.03.2016             Karlsruhe, Substage

10.03.2016             Saarbrücken, Garage

11.03.2016             Mainz, Frankfurter Hof (ausverkauft!)

13.03.2016             Berlin, ASTRA Kulturhaus (ausverkauft!)

14.03.2016             Dresden, Reithalle Strasse E (ausverkauft!)

15.03.2016             Erfurt, Stadtgarten (ausverkauft!)

17.03.2016             Dortmund, FZW Freizeitzentrum West (ausverkauft!)

18.03.2016             Bremen, Schlachthof (ausverkauft!)

19.03.2016             Hamburg, Grosse Freiheit 36 (ausverkauft!)

20.08.2016             Braunschweig, Volksbank BraWo Bühne

24.11.2016             Offenbach, Stadthalle Offenbach

25.11.2016             Köln, E-Werk

26.11.2016             Münster, MCC Halle Münsterland

29.11.2016             Bremen, Pier 2

01.12.2016             München, Tonhalle

02.12.2016             Stuttgart, Liederhalle Beethovensaal

03.12.2016             Hannover, Swiss Life Hall

06.12.2016             Berlin, Columbiahalle

09.12.2016             Hamburg, Sporthalle

Website von Bosse.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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Ein Gedanke zu “Bosse – „Engtanz“

  1. Sorry, aber da zeigt sich doch, wie vielfältig die deutschsprachige Musik ist. Lieder im Stile von …. aber alle unterschiedlich und alle die genannten Künstler haben doch ihren eigenen Stil und wenig davon ist so eingängig und oberflächlich, dass man es hört und gleich wieder vergisst. Es kommt sehr stark auf die Themen an, ob es einen kriegt oder nicht. Frei nach dem Motto: Bist du zufrieden, gefällt dir die Melodie, bist du traurig, verstehst du den Text.

    Mir ist auf aufgefallen, dass hier fast nur männliche Künstler/Musiker genannt werden, dabei gehen die großartigen derzeitigen Sängerinnen/Künsterlinnen auch ganz schön ab. Es sind dann oft die jungen Damen, die von den männlichen Künstlern als Vorgruppe oder Sidekick auf der Tour dabeihatten. Aber genauso findet sich dann wieder Enno Bunger als Vorspieler bei einem Konzert des Mainacts Boy (und die singen ja gar nicht auf deutsch) und man selber denkt, Hey super, finde ich beide gut, passt. Könnte auch genauso gut umgekehrt sein.

    Alin Coen hat beim Projekt Seerosenteich bei Phillip Poisel geglänzt, sie hat unglaubliches Gesangstalent, aber ihre Texte sind spröde und nicht im Gegensatz zum Frauenbild von Atemlos geprägt von Themen, mit denen sich nicht jedermann/jedefrau beschäftigen möchte. Sie ist quasi das „Familienfest“ aus Bosses Album Kraniche in weiblich. Dann kommt seinerseits wieder Valentine zum Vorschein oder die wunderbare Elif, die sind beide so wunderschön und können so toll singen, aber sie sind eben auch noch sehr jung. Eigentlich auch Lena Meyer-Landruth, Stephanie Heinzmann. Von denen erwartet man jetzt auch nicht besonders große Erkenntnisse aus den großen Lebenskrisen. Da gehts mehr um Liebeskummer und so. Silbermond mausert sich jetzt gerade ein wenig von der Nachwuchsband zum etablierten Erwachsenenpop, entsprechend reifer werden die Texte auch. Und dann gibts noch Phela und Cäthe und wie se nich alle heißen, Judith Holfernes, die ja nicht nur Teil einer Band ist, sondern wirklich auch eine charismatische Persönlichkeit. Und nicht vergessen wollen wir auch den mittlerweile Mainstream Pop, vertreten durch Andreas Bourani, Johannes Oerding, Joris, Mark Forster und so, aber die haben auch mal klein angefangen und es ist noch nicht sooo lange her, da wollte die kein Mensch hören. Und Phillip Poisel ist mittlerweile auch massentauglich, aber Männlein wie Weiblein pilgern dahin und erleben den kollektiven Rausch auf seinen Konzerten. Und man muss ja sagen, der Typ ist auch auf der Bühne noch so introvertiert, man möchte sich fast schon beim Applaudieren dafür entschuldigen, dass man ihn beim Singen unterbrochen hat. Und der nuschelt so, man versteht echt nix und man liebt ihn trotzdem.

    Phillip Dittberner habe ich schon mal beim stars@nrd2 live gesehen, Wolke 4 fand ich total langweilig, war überhaupt nichts für mich, und dann kam „Das ist dein Leben“ und jetzt verstehe ich auch Wolke 4.

    Nicht zu vergessen seien hier an dieser Stelle auch drei Künstler, die ich für extrem unterschätzt halte und das sind Sebó, Spacemann Spiff und Jonathan Kluth (der singt aber auch auf Englisch).

    Und um unsere kleine Hans-Dampf-in-allen-Gassen-Band Tonbandgerät muss man sich glaube ich keine Sorgen machen. Die wuseln sich ja gerade überall rein und die sind noch soooo jung, da wird noch einiges kommen. Der Festivalsommer 2016 gehört denen, da bin ich mir sicher.

    Man muss sagen, Ina Müllers „Inas Nacht“ und TV Noir haben für die deutschsprachige Musik große Dienste geleistet. Da fällt mir ein, dass Tiemo Hauer auch ein neues Album draußen hat und den hatte ich zum ersten Mal bei Ina gesehen. Aber wie gesagt, er ist sehr jung. Seine Themen sind nicht unbedingt meine Themen, aber ein paar schon und der Junge hat Talent. Bilderbuch ist auch so ein Bringer.

    Bosse ist Bosse, er ist einfach in jedem einzelnen Lied zu erkennen. Es klingt zwar so ähnlich wie, aber es ist immer er. Die Bläser, die Streicher, der Rhytmus, die Texte „Halbschlaf in Mayonaise“, der hat so den Blick für so komische Alltagsdetails, wo jeder nickt und sagt „Kenn ich“. Das ist die 1-A-Anknüpfung an „Cheeseburgerreste im Gesicht“.

    Ich ärgere mich übrigens so, dass ich keine Karten mehr für Coldplay in Hamburg bekommen habe, denn die fand ich schon gut seit der Single „Trouble“ und ich habe sie noch nie live gesehen. Aber dafür dreimal Joris und da findet sich vieles wieder. Ist schon interessant, wie sich der Kreis schließt… Amazon hat meinen Musikgeschmackt schon ziemlich gut erkannt. Die Leiste mit den Empfehlungen ist immer so: hab ich schon, hab ich schon, hab ich schon, hab ich schon…

    Wie wäre es mal mit der Rezension mit der neuen Platte von Max Giesinger, seines Zeichens Castingsendungs-Überbleibsel aus der ersten Staffel von The Voice of Germany?

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