Künstler | Braids |
Album | Flourish / Perish |
Label | Full Time Hobby |
Erscheinungsjahr | 2013 |
Bewertung |
Die Beschleunigung von allem hat der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa als Grundprinzip unserer Zeit ausgemacht. Wir wollen immer mehr erleben, genießen, erreichen, immer schneller und immer gleichzeitiger, schreibt er in seinem Essay Beschleunigung und Entfremdung und begründet auch, woran das liegt: „Ganz egal, wie schnell wir werden, das Verhältnis der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht größer, sondern konstant kleiner.“
Braids sind ein gutes Beispiel für seine These. Die Band aus Montreal hat schon nach einem Album (dem Debüt Native Speaker aus dem Jahr 2011) einen Punkt erreicht, an den andere Künstler erst nach 20 Jahren kommen: Braids haben es geschafft, schon zwei Bandmitglieder zu verlieren (diesmal ist Keyboarderin Katie Lee ausgestiegen, auch wenn sie hier noch gelegentlich zu hören ist). Und sie sind vor allem gelangweilt von ihrem eigenen Sound. Das heißt in erster Linie: von Gitarren. Auf dem Nachfolger Flourish / Perish ist nur noch bei In Kind ganz am Ende der Platte eine Gitarre zu hören (dazu eine Stimme, die sich in unglaubliche Höhen schraubt). Statt als Band live im Studio aufzunehmen, wurde diesmal am Computer gebastelt, einzelne Spuren einzeln bearbeitet, mehr nach innen geschaut als auf den Nebenmann. Statt nach Animal Collective, Deerhunter (das waren frühe Förderer von Braids) und Arcade Fire, die häufig als Referenzpunkte für Native Speaker genannt wurden, gibt es auf Flourish / Perish einen ganz neuen Sound.
“We made up a genre called natural electronica”, schlägt Sängerin Raphaelle Standell-Preston als Genrebezeichnung vor. “Natural components making up electronic music. Like the voice and drums, more organic elements combined with electronic. We are very much electronic in the way we composed the last record, using the computer. Aside from the drums and my voice it’s all super synthesized. Natural electronica.“
Gleich der erste Track, Victoria, gibt einen guten Vorgeschmack darauf, was sie damit meint: Alles bräut sich zusammen, alles türmt sich auf, alles brodelt, ohne wirklich zum Kochen zu kommen. Hochkomplexe Rhythmen und die tolle Stimme von Raphaelle Standell-Preston sind die wichtigsten Fixpunkte für Flourish / Perish. In Ebben weiß man nicht, welchen dieser Bestandteile man beeindruckender und schöner finden soll, Hossak lässt an die Unplugged-Performance von Björk denken, Girl ist ganz in sich versunken.
Fruend klingt wie die musikalische Entsprechung eines Märchenwalds voller Tau, Schmetterlinge und zauberhafter Wesen, durch den aber auch mal die eine oder andere bedrohliche Nebelschwade zieht, und in dem Standell-Preston als gute Fee regiert. Das Schlagzeug von Drummer Austin Tufts in December ist beinahe kraftvoll, rundherum lenken aber reichlich Flirren und Säuseln von diesem Vorwärtsdrang ab. Es gibt ganz viele Spuren, jede scheint ihr eigenes Lied zu spielen, und doch ergibt das keine Kakophonie, sondern ein wundersames, schillerndes Ganzes.
Together scheint getragen von einem Drumcomputer, der mit künstlicher Intelligenz versehen wurde, sich nun aufmacht, die Welt und ihre Möglichkeiten zu erkunden, und der einigermaßen beunruhigt scheint ob der Dinge, die er dann entdeckt – bis nach mehr als zwei Minuten der Gesang dazu kommt, wie um ihn zu besänftigen, und dann nach fünf Minuten der Bass von Taylor Smith, der den Eindruck macht, er wolle beide verführen.
Fast alles auf Flourish / Perish klingt wie nicht von dieser Welt, schwer zu fassen und doch dringlich. Vielleicht am deutlichsten wird das im traumhaften Juniper. Der Track beweist eindeutig, dass Braids mittlerweile Kopfmusik machen. Er beweist aber auch, wie organisch und emotional diese Kopfmusik sein kann und wie sehr Braids ihre neue Gestalt genießen. Das ist auch gar kein Widerspruch zu den Thesen von Hartmut Rosa. Der sagt zum Wesen der Beschleunigung nämlich auch: „Wir genießen das Tempo ja auch; Beschleunigung und Flexibilisierung vermitteln uns ein Freiheits- und Glücksgefühl. Je mehr Optionen wir haben, je mehr Erlebnisse möglich sind, umso reicher erscheint unser Leben.“
Es brodelt – das gilt auch im Video von In Kind.
httpv://www.youtube.com/watch?v=_Xk-s4fCCwc